Wiebke Strank: „Die Insel“
Mitten auf der Verkehrsinsel stand ein Zelt. Es schien für mindestens vier Personen zu sein. Dahinter ein ockerfarbener Renault Kangoo, der schon auseinanderzufallen drohte. Sie ließ die Seitenscheibe herunterfahren, um das Zelt besser in Augenschein nehmen zu können. Doch der Verkehrsfluss drängte, weiterzufahren, immer den Pfeilen entlang den vorgesehenen Weg um die Insel herum und dann abbiegen.
Sie hatte noch eine Menge zu erledigen an diesem Freitagnachmittag. Zur Apotheke. Einkaufen fürs Wochenende. Außerdem hatte sich die Sohle an einem ihrer Winterstiefel gelöst, die mussten zum Schuster, bevor es kalt wurde.
Trotzdem fuhr sie an der Ausfahrt ab und noch einmal zur Insel zurück.
Eine halbe langsame Runde. Der Blödmann hinter ihr hupte. Sie sah aus dem Seitenfenster. Die Insel hatte eine Umrandung mit flachen Pflastersteinen, diese war aber nur etwa einen halben Meter breit. Hier konnte man unmöglich parken. Doch sie war eine geschickte Fahrerin und bugsierte ihren roten Saab so auf den Pflasterkreis, dass er das Gras der Insel kaum berührte.
Sie knallte die Autotür zu.
„Hier kann man doch wohl nicht kampieren“, sagte sie zu dem Zelt.
Ein rothaariger Junge mit Sommersprossen steckte seinen Kopf aus dem Zelteingang. Er musste etwa acht Jahre alt sein. Ein zweiter Junge, der ihm so ähnlich sah wie ein Zwilling, aber ein deutliches Stück kleiner war, tat es ihm nach. Ein dunkelblondes Mädchen setzte sich im Schneidersitz vor den Zelteingang und beäugte sie neugierig.
„Wohnt ihr alleine hier?“
Wie als Antwort schälte sich ein großgewachsener Mann aus der Zeltplane. Er trug eine Jogginghose und um den Hals ein Handtuch in einer unpassenden Farbe.
„Moin“, sagte der Mann und streckte ihr seine Hand entgegen. Die sicher voller Keime war. Hier auf der Insel konnte man sich ja wohl kaum die Hände waschen. Es gab doch keine Sanitäranlagen. Der Mann hatte glänzende schwarze Haare. Die rote Haarfarbe der Fast-Zwillinge musste von der Mutter stammen.
„Was in aller Welt machen Sie hier, das ist doch gefährlich“, sagte sie. Nicht jeder hatte sein Auto so gut unter Kontrolle wie sie ihren roten Saab.
„Wohnungsnot“, sagte der Vater.
„Ich rufe die Polizei“, sagte sie.
„Leider kann die Polizei nicht alle Probleme lösen“, sagte der Vater. Er rubbelte mit dem Handtuch sein nasses Haar trocken.
„Wo haben sie denn geduscht?“
Der Vater lachte: „Geduscht? Nein, ich war im Meer schwimmen.“ Der war doch komplett irre.
Was tat sie eigentlich hier? Sie musste so schnell wie möglich zurück in ihren Saab, vernünftig ausparken, sich in den Kreisverkehr einfädeln und dann bei der nächsten Haltegelegenheit die Polizei rufen. Die armen Kinder. Der ältere der beiden Zwillinge war kaum älter als Bernhard damals. Sie wandte sich zum Gehen.
„Bleiben sie doch zum Abendessen!“ Der Mann hatte sich das Handtuch über den Kopf gelegt und blickte sie erwartungsvoll an: „Wir grillen.“
„Nein, danke. Salmonellen. Sie haben ja wohl keinen Kühlschrank dabei.“ Hoffentlich hatten die nicht auch noch einen Kühlschrank im Zelt.
„Wie lange wollen sie denn hier bleiben?“, fragte sie.
„Keine Sorge“, sagte der Mann, „wir sind vegan. Da hält alles länger.“
Er lachte und klopfte sich auf den Bauch.
Der kleinere Junge kam aus dem Zelt auf sie zugelaufen. Er war nur mit einer Badehose bekleidet. Einer hellblauen Badehose mit einem aufgenähten Seepferdchen-Abzeichen.
„Ich bin übrigens David“, sagte der Mann, „kannst aber auch Dodo sagen.“
„Beeke“, sagte sie. „Das ist die friesische Form von Elisabeth.“ Für ihn eigentlich Frau Raschke.
„Beeke“, sagte er. „Das gibt´s in Düsseldorf nicht. Genau deswegen fahren wir so gerne hierher in den Urlaub.“
Der kleine Seepferdchen-Junge war jetzt bei ihnen. Er nahm ihre Hand. „Kommst du nachher mit zum Abendschwimmen?“, fragte er. Seine Hand war klein und warm.
„Abendschwimmen im September? Du wirst dich erkälten. Erlaubt deine Mutter das?“
Der Junge sah sie an. Das Seepferdchen auf seiner Badehose schien zu weinen. Der Vater nahm ihn auf den Arm.
„Na klar gehen wir Abendschwimmen, nicht Timo?“ Er hüllte den Jungen in sein Handtuch und knuddelte ihn warm. „Hier in Schleswig-Holstein machen das alle. Stimmt doch, Beeke? Du bist doch von hier?“
„Aus Altenhof“, sagte sie.
„Gibt es da schöne Inseln? Wir müssen möglicherweise noch einmal umziehen. Wir bleiben nämlich das gaa–nze Wochenende!“ Der Vater warf den kleinen Jungen in die Luft und fing ihn wieder auf. Das Seepferdchen jauchzte.
Ihre Lieblingsinsel war Föhr. Weiße Sandstrände. Wie gerne war sie als Kind dort gewesen. Sie sah auf den klapprigen Kangoo.
Auch das Mädchen war zu ihnen herangekommen. Sie schmiegte sich an ihren Vater, der noch mit Timo auf dem Arm dastand. Altersmäßig musste sie zwischen den beiden Jungen sein, vielleicht sechs. Bernhard war noch im Zelt. Ach nein, er hieß natürlich anders.
„Was ist nun mit Abendessen? Oder was hast du vor mit deinem einen, wertvollen Leben?“, fragte Dodo.
Er knuffte seine Tochter in die Seite. „Mary, du kannst schon mal den Grill anschmeißen. Wenn das nicht klappt, komme ich gleich helfen. Auf jeden Fall könnt ihr schon mal die Maiskolben vorbereiten.“
Mary und Timo holten einen großen durchsichtigen Plastikeimer voller Maiskolben. Zuerst zupften sie die fluffigen schwarzen Blüten ab und begannen dann, die langen grünen Blätter abzuschälen. Vor ihnen lag bald ein großer Haufen, als ob sie Holz für ein Lagerfeuer aufschichten würden. Ein paar vorbeifahrende Fahrzeuge hupten.
Mary und Timo schienen die Autos nicht zu hören. Sie waren ganz in den Moment versunken, an ihren Händen streichelten die fluffigen schwarzen Maisblüten. Die Kolben rochen frisch gepflückt. Warm mit Butter würden sie köstlich schmecken. Hoffentlich hatten sie Salz dabei. Sie fühlte schon den warmen Maiskolben in ihren Händen, die knackig frischem Körner zwischen den Zähnen, schmeckte sie auf der Zunge. Zerbiss sie, so dass der salzig-butterige Maissaft austrat.
Ob Dodo plante, die Maisblätter anzuzünden oder wie würden sie grillen?
Feuer auf der Verkehrsinsel. Da würde auf jeden Fall die Polizei kommen. Was würde dann mit dieser Familie geschehen, mit ihrem einen, wertvollen Leben? Sie dachte an ihre Kindheit. Sie hatte dort mit Bernhard Grashüpfer gefangen.
„Im Geltinger Birk kann man kostenlos zelten“, sagte sie. „Aber nur, wenn man zu Fuß da ist. Ich fahr euch.“
„Hurra!“, jubelte Timo.
Elisabeth Raschke saß am Steuer ihres roten Saab. Sie musste noch zum Schuster. „Manchmal hat man vergessen, wie nah das Meer ist“, dachte sie.