Silke Matthaei: „Schwimmen“
Sie zieht die Schwimmkappe auf den Kopf und schaut über das Becken hinaus ins Tal. Die Sonne trocknet die letzten Taureste auf den Dächern der Stadt. Die Luft ist klar. Am Beckenrand sammeln sich die Rentner lachend an der Leiter und steigen nacheinander aus dem Wasser. Grüßen im Vorbeigehen, sagen Dinge wie „Jetzt ist die Bahn frei für die Jugend“ oder „Jetzt rein da! Nicht, dass Du zu spät in die Schule kommst!“ worauf Hannah wie immer freundlich lacht und nickt. Nur noch der eine Herr, der keine Lust auf den ganzen Trubel hat, zieht seine Bahnen, als sie auf den rauen Startblock tritt. Zu ihren Füßen bewegt sich das Wasser in leichten Wellen und glitzert. Sie riecht feuchte Erde und Gras. Sie springt. Ihr Körper schreckt für einen Moment vor der Kälte zurück, wird aber gleich wärmer, als sie beginnt, mit langen Zügen zu kraulen. Unter ihr am Boden Sonnenkringel, die sich mit der Bewegung der Wasseroberfläche beständig verformen. Zwischendrin schlängelt sich ihr Schatten. Die Umwälzpumpe dröhnt leicht und der Geschmack nach Chlor macht sich in ihrem Mund breit. Als sie wendet, sieht sie, dass sie das Becken inzwischen für sich allein hat. Mit gleichmäßigen Zügen reiht sie eine Bahn an die andere, während die Sonne ihren Rücken mehr und mehr wärmt.
Die noch feuchten Haare kleben ihr im Gesicht, als sie das Klassenzimmer betritt. Es ist kühl, weil der Raum nach Norden ausgerichtet ist. Am Boden treibt blaues Reinigungsgranulat. Die Klassenkameradinnen besprechen ihre Pläne für das kommende Wochenende und die Jungs spielen in der letzten Reihe lautstark Poker um Kronkorken. Maja ist noch nicht da. Hannah stellt den Rucksack neben ihr Pult und lässt sich auf den Stuhl fallen. Als letzte vor dem Lehrer eilt Maja in den Raum, strahlend und voller Energie. Jubelnd wird sie von den Freundinnen begrüßt. Daheim von ihrem Zimmer aus kann Hannah in das Fenster von Majas Zimmer sehen. Allerdings ist das meistens dunkel, weil sie entweder nicht daheim ist oder noch schläft. Wenn das Freibad geschlossen ist, begegnen sie sich hin und wieder auf dem Schulweg und gehen dann ein Stück des Weges hintereinander her. Sie wartet, bis sie ihren Blick fangen kann, und grüßt. Maja nickt knapp zurück.
Sie ist mit ihrem Schwimmpensum schon fast durch, als sie bei der Wende sieht, dass auf der anderen Außenbahn jemand schwimmt. Sie gleicht ihr Tempo an und schaut rüber. Männlich, größer als sie, mit starken Armen und schwacher Beinarbeit. Sie erhöht das Tempo. Er auch. Mehrere Bahnen liegen sie im Wettstreit, wobei sie meistens parallel in die Wende gehen. Auf ihrer letzten Bahn gibt sie alles und holt noch eine halbe Länge raus. Schwer atmend beobachtet sie, wie der Schwimmer wendet und als er erkennt, dass sie fertig ist, seine Geschwindigkeit drosselt. Sie stemmt sich aus dem Wasser und merkt die Muskelanspannung in den Beinen und Schultern, als sie sich aufrichtet. Beim Dehnen erkennt sie den Schwimmer: Marcus, der gerade in der Klasse über ihr Abi schreibt.
„Hannah!“ Überrascht dreht sie sich um und sieht Maja über den Schulhof auf sie zueilen.
„Kannst Du mir bitte, bitte einen riesen Gefallen tun?“
„Sicher?“
„Nimmst Du meinen Kram mit? Du kannst die Tasche einfach daheim hinter die Müllboxen legen.“ Hinter Maja sieht sie ihre Clique, die alle zusammen in einem orangenen Golf Cabrio sitzen. Der Motor läuft schon.
Hannah denkt „Da passt sie doch eh nicht mehr rein.“ und sagt „Klar. Mache ich.“ Die Tasche ist schwer und Maja legt ihr kurz die Hand auf den Arm, lächelt sie strahlend an, ist schon beinahe weg, als Marcus vorbeikommt und Hannah zunickt. Sie grüßt zurück und sein Blick wandert zu Maja, die kurz in der Drehung verharrt, bevor sie auf das Auto zu rennt. Auf der Lehne der Rückbank sitzend dreht sie sich noch einmal um und winkt.
Vorsichtig nimmt Hannah einen Gegenstand nach dem anderen aus der Tasche und legt ihn so ins Gras, dass sie ihn nahezu unverändert zurücklegen kann. Die zusammengeknüllten Sportsachen lässt sie am Stück. Geschichts- und Chemiebuch. Dann ein Hello Kitty-Täschchen, darin eine Wimpernzange, blaue Wimperntusche, Lipgloss in Babyrosa und ein Döschen Penatencreme. Außerdem Tampons, die aber schon so eingedreckt sind, dass Maja die hoffentlich nicht noch verwendet. Auf dem ledernen Stiftemäppchen haben die anderen Mädchen unterschrieben und kleine Zeichnungen gemacht. Darin ist ein Durcheinander von verschiedenen Faserstiften und Tintenroller von Markenherstellern. Außerdem insgesamt 83 Pfennige. Nach der Brotdose nimmt sie als letztes den Collegeblock heraus. Maja hat ihn aufgeschlagen in die Tasche gestopft. Die Hälfte der Seiten fehlt und Mitschriebe aus dem Unterricht gibt es nicht. Nur ein paar Stichworte.
Sie ist meistens schon bei ihrer zwanzigsten Bahn, wenn Marcus ins Freibad kommt und seine Außenbahn ansteuert. Er grüßt im Vorbeigehen mit einem Nicken. Kann er dabei ihren Blick nicht fangen, wiederholt er den Gruß, wenn sie gleichzeitig wenden. Für ihre letzten vier Bahnen erhöht Hannah das Tempo und Marcus reagiert sofort und zieht ebenfalls an. Dann schwimmen sie mit aller Kraft gegeneinander. Kopf an Kopf. Wenn sie danach zur Umkleide geht, hebt sie die Hand mit einem kleinen Winken in seine Richtung.
Hannah schließt ihr Buch über dem Stift aus Majas Tasche, mit dem sie gerade Textpassagen markiert, als diese neben sie tritt. Maja ist zappelig und schaut sich suchend auf dem Schulhof um.
„Danke für Deine Hilfe neulich. Das war sehr nett“, sagt sie.
„Kein Ding“, sagt Hannah.
Das Handtuch um die Schultern steht sie unter dem Vordach der Umkleideräume und beobachtet das Prasseln des Regens auf der Wasseroberfläche. Marcus kommt, den Rucksack über den Kopf haltend, angerannt und grinst, als er sie sieht.
„Das ist Dir dann doch zu viel Wasser, oder was?“
„Der Bademeister ist hysterisch geworden und hat Blitze gesehen.“
„Ach? Gewittert es?“
„Nein.“
Gemeinsam beobachten sie, wie der Regen langsam weniger wird und dann ganz aufhört.
„Jetzt!“ Er strahlt sie an und sie schaut sehnsüchtig zum Becken.
„Nee, Mathe.“
„Dann morgen.“
Sie nickt und geht sich umziehen.
Hannah sitzt auf der kaputten Tischtennisplatte und kritzelt auf ihrem Block rum. Durch ihre vor dem Gesicht hängenden Haare beobachtet sie Maja, die mit ihrer Clique auf den Stufen vor dem Pavillon sitzt, in dem sie gleich Kunst haben. Eine ihrer Freundinnen hat Muffins mitgebracht, die sie gemeinsam essen. Maja strahlt und gestikuliert, streicht sich wiederholt die Haare aus dem Gesicht, reckt den Hals und drückt den Rücken durch. Sie ist schön.
Der erste Gong ertönt und Hannah stopft ihre Unterlagen in den Rucksack. Langsam geht sie auf die Muffin-Party zu, merkt, dass Maja sie anschaut. Hannah geht weiter. Maja sieht ihr entgegen, hebt einen Muffin hoch, fragt „Magst Du auch?“. Und dann steht sie da, hält den Muffin und hört sich Majas Pläne für die Abifeier in der kommenden Woche an. Hannah beißt in das Gebäck und es ist köstlich. Es wird wohl eine private Party im Anschluss an den offiziellen Festakt geben. Die Kunst soll sein, da eingeladen zu werden. Hannah spürt eine Hand auf ihrer Schulter und Maja verstummt. Marcus. Hannah nickt ihm zu und dreht sich wieder zu Maja. Die aber schaut abwartend Marcus an. „Du schuldest mir noch eine Revanche“ sagt er zu Hannah und zu Maja „Wir schwimmen jeden Morgen gegeneinander“. Die staunt ihn an „Neben dem Abi?“ und er lacht zurück und sagt „Easy“.
Am letzten Tag des Schuljahres sitzt Marcus auf der Tischtennisplatte. Hannah klemmt die Mappe mit ihren Zeichnungen aus dem Jahr fest unter die Achsel und geht zu ihm.
„Wo warst Du?“, will sie wissen.
„Ich muss jetzt morgens nicht mehr so früh raus.“
„Ja und?“
„Ich mache jetzt andere Dinge.“
Er fixiert etwas hinter Hannah. Sie folgt seinem Blick und sieht Maja rauskommen, die den letzten Schultag schon den ganzen Vormittag mit ihrer Clique feiert. Der Schwips steht ihr gut, lässt die Augen noch mehr strahlen. Die langen Locken schlängeln im Takt der Schritte um ihren Kopf.
„Ferien!“, schreit sie, reißt die Arme hoch und kommt auf sie zu.
„Ferien!“, echot Hannah und wedelt etwas unbeholfen mit der Mappe.
Maja stürzt heran.
An Hannah vorbei.
In Marcus‘ Arme.
„Süße!“, ruft der und küsst sie intensiv.
Schneeregen prasselt gegen die hohen Scheiben des Hallenbads. Hannah steht unter dem Neonlicht auf einem der glitschigen Startblöcke und versucht, zwischen den schwimmenden Menschen und tobenden Kindern eine Bahn für sich zu finden.