Petra Symosek: „Tiere in der Stadt“ aus dem Romanprojekt „Kitsune“ (Urban Fantasy)
Der Text ist eine Szene aus dem Urban-Fantasy-Projekt „Kitsune“. Minuk will ihren Bruder Yoshi aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie befreien. Sie ahnt nicht, dass ihre verschwundene Mutter eine magische Füchsin, eine Kitsune.
Minuk ist nass bis auf die Knochen. Das Fell trocknet einfach nicht. Der Motor des SUV, unter dem sie auf dem Bürgersteig kauert, strahlt kaum noch Wärme ab. Minuk drückt sich an den fetten Vorderreifen und linst hinaus in den Regen, der seit Tagen auf die Stadt pladdert und die Straße in eine träge Kloake verwandelt hat. Das Wasser geht fast bis zum Bordstein, auf dem sie hockt. Minuk steckt prüfend die Pfote hinein. Als sie den Grund ertastet, reicht das Wasser bis zum Sprunggelenk. Aber wie war es gestern? Sie erinnert sich nicht. Sonnenlose Tage und mondlose Nächte verschwimmen im strömendem Regen. Es ist die fünfte oder sechste Nacht ohne Essen. Inzwischen hat der Regen die aufgeweichten Dönerreste weggespült, die sie gestern noch angewidert verschmäht hat. Nur eine halb verweste Aprikose hat sie runtergewürgt, und der Gedanke an die schleimige Textur dreht ihr immer noch den Magen um. Ich werde Yoshi niemals finden, wenn ich unter einem Auto verhungere.
Als Minuk zitternd aus einem unruhigen Halbschlaf erwacht, ist der Motor kalt. Sie flext die schwarzen Krallen. Oh Shit, dieser Trip ist immer noch nicht vorbei. Der Regen ist in ein diesiges Nieseln übergegangen. Es ist heller, und die Straße ist wieder zu sehen. Auf den Pfützen, die noch in den Schlaglöchern stehen, schillern Ölschlieren. Minuk streckt die Schnauze unter dem Auto hervor und saugt die Luft ein. Eine Mischung aus feuchtem Mauerwerk, Diesel und Hundekot. Aus der Ferne wabert der überwältigende Duft von Regenwürmern heran, rosig und sauber und nach frischer Erde. Ihr Magen knurrt.
Ein Auto fährt vorbei, dreckiges Wasser spritzt hoch und klatscht in ihr Versteck. Minuk kriecht unter dem SUV hervor, schüttelt sich ausgiebig und humpelt den Gehweg entlang. Sie hält sich dicht bei den parkenden Autos. Die schlimme Pfote kann sie immer noch nicht belasten. Sie knickt ein, wenn sie trotz der Schmerzen damit auftritt.
Minuk bleibt abrupt stehen. Da ist etwas. Ihre spitzen Ohren zucken, als sie ein schwaches Gluckern auffangen. Sie schaut in den Rinnstein. Auf einem Gulli liegt ein Klumpen, der das abfließende Wasser staut. Minuk nähert sich zögernd und stupst den Klumpen mit der Schnauze an. Halb verborgen unter einem aufgequollenen Stück Pappe stößt sie auf den leblosen Körper einer Taube. Sie liegt auf dem Rücken. Ein Fuß ist verkrüppelt, der andere unnatürlich verdreht. Minuk weicht zurück. Ihre Nasenlöcher vibrieren. Der Geruch des Todes ist stark, aber nicht unangenehm. Der Hunger wütet in ihrem Bauch. Jetzt mach endlich. Sie ist doch schon tot. Tu es für Yoshi. Minuk kneift die Augen zusammen, dann beißt sie zu. Ihre scharfen Zähne durchtrennen das Gefieder und finden den kühlen, steifen Körper darunter. Sie fängt an zu reißen, zieht das Fleisch von den Knochen, das trotz seiner Steife überraschend zart ist. Es schmeckt kräftig, durchsetzt mit dem Aroma von vergammeltem Gewebe und der bitteren süßlichen Note vergorenen Essens.
Zu spät hört sie die kleinen, schnellen Schritte. Ihre Nackenhaare sträuben sich. Nur noch ein Bissen. Minuk schlingt gierig, dann rennt sie los, auf drei Beinen, die linke Hinterpfote rudert nutzlos durch die Luft. Die Schritte kommen näher, und es sind viele. Aus dem Augenwinkel sieht Minuk einen braunen, pelzigen Körper. Er holt auf und trabt kurz an ihrer Seite. Das Tier ist etwas größer als Minuk. Minuk erkennt die braune Maske und den buschigen Schwanz eines Marderhundes. Erst sind es einzelne, die sie von beiden Seiten überholen, dann viele. Krass viele. Vor ihr schließen sie sich wieder zusammen. Jetzt ist sie umringt von einer dunklen, pelzigen, rennenden Masse.
„Das ist sie.“
„Wir haben sie.“
Minuk kann die Marderhunde kaum verstehen. Sie stolpert und fällt hin, doch der Strom der Leiber umringt sie, rempelt sie an, drängt von hinten und zwingt sie, weiterzulaufen. Das ist so eng, die Marderhunde rennen, doch Minuk kann nicht mehr mithalten mit der verletzten Pfote und stolpert immer öfter. Die sie umdrängenden Leiber drosseln ebenfalls das Tempo. Schließlich trotten alle, dicht aneinandergedrängt, Minuk in der Mitte, im Schritttempo weiter. Mit jeder Minute wird die Menge dichter. Ich muss hier raus. Sobald Minuk versucht, auszuscheren, rücken sie noch enger zusammen und rempeln sie in die Marschrichtung. Minuk keucht, sie kämpft gegen Tränen und die aufkommende Panik.
Irgendwann hält die Gruppe an. Minuk blickt nach oben. Sie stehen vor dem Eingang eines mehrstöckigen Altbaus. Der vorderste Marderhund dreht sich um und klopft mit seinem buschigen Schwanz gegen ein schmutziges Fenster im Souterrain. Minuk erspäht eine goldene Winkekatze, die müde den Arm auf und ab bewegt. Tak, tak. Hinter dem Fenster geht ein Licht an. Der Marderhund, der gegen das Fenster geklopft hat, taxiert Minuk. „Wir haben lange nach dir gesucht.“ Er räuspert sich. „Hier bist sicher. Goldstandard.“
Alle schauen gebannt auf die Eingangstür, die sich quietschend öffnet. Ein Mensch tritt heraus. Umringt von den Marderhunden, bleibt er direkt vor Minuk stehen. Seine Beine sind blond behaart. Die Füße stecken in Flip-Flops.
„Super gemacht, Leute! Danke euch allen! Den Rest schaff ich allein.“
Er beugt sich zu Minuk hinunter, packt sie am Nackenfell und zerrt sie hoch. Minuk tritt um sich, trifft aber nur Luft. Der Mann hält sie auf Armeslänge entfernt und runzelt die Stirn.
„Du stinkst.“
Minuk faucht und beißt, als sie durch einen langen Flur in einen gekachelten Raum getragen wird. Sie landet unsanft auf dem Boden einer Badewanne. Der Mann greift nach der Brause, zielt auf Minuk und dreht den Wasserhahn an. Minuk jault auf. Als sie dem scharfen Duschstrahl ausweichen und aus der Wanne klettern will, rutscht sie an dem glatten Emaille ab. Sie fiept, als sie versehentlich mit der verletzten Pfote auftritt, und lässt sich entkräftet auf den Wannenboden fallen. Braune Soße rinnt aus dem Fell in den Abfluss. Als nur noch klares Wasser kommt, stellt der Mann die Dusche ab, nimmt ein sauberes Handtuch vom Regel und legt es in die Badewanne. Dann setzt er sich auf den Klodeckel und stützt das Kinn in die Hand. Er hat dunkle Ringe unter den Augen und trägt ein verwaschenes Bandshirt der Vermins. Yoshi hat auch so ein T-Shirt.
„Verstehst du mich?“
Minuk nickt zaghaft.
„Wir haben überall nach dir gesucht. Tan ist auf dem Weg. Er wird gleich da sein.“
Minuk legt den Kopf auf das weiche Handtuch und knurrt. Tan ist ihr mehr als nur eine Erklärung schuldig.