Natascha Fröhlich: „Großmütter, mein Vater, Klaputek und Co.“

Meine Tochter schaut mich entsetzt an, ich habe sie von der Schule abgeholt und sage, der Kalareh hat mir gesagt, du hast heute nichts gegessen. Meine Tochter ist fassungslos und will wissen, woher ich das weiß. Ich zucke mit den Schultern, was so viel bedeutet, wie „der Kalareh halt“, und fahre mit ihr nach Hause und denke an früher.

Neben all dem Nebel in unserer Familie, vielen schweren Geheimnissen und einer sehr angespannten, gewaltvollen Atmosphäre gab es auch Pralinen, Sternstunden und Kinderglück in der 74 qm großen Wohnung unterm Dach. Es gab Hausgeister und Raben und andere Wesen, die uns beglückten und begleiteten.

9 Jahre lange Haare

Hüpfpopo

immer munter

rauf und runter

wer sie nennt

Unterhemd

kriegt die Gabel auf den Schnabel

bis er pennt

Kommt der große Ulewuh

macht der Nasi die Augen zu

Dieses Gedicht habe ich zu meinem 9. Geburtstag bekommen und so ging das in einem fort, mein Vater war ein wandelndes Lexikon, eine Witzmaschine, die zu jedem Stichwort einen Witz machte und ein Geschichtenerzähler ohnegleichen.

Es gab den Ulewuh, der war allgegenwärtig, hatte keine Gestalt, konnte immer überall eingebaut werden. Wo sind meine Strümpfe, ah die hat bestimmt der Ulewuh mitgenommen. Kannst du mir Geld für die Schule morgen mitgeben, warum fragst du nicht den Ulewuh? Ich verstehe die Hausaufgaben nicht, kannst du mir helfen? Warum fragst du nicht den Ulewuh?

Dann gibt es Klaputek, den Waldschlurri und Knacks, den Bartschlurri, den kennen alle Kinder, Enkelkinder, Nichten, Neffen  und Besucher der Familie, Kranke, Teymurian, Niesemann und Fröhlich und er lebt heute noch. Als meine Schwester etwa 7 Jahre alt war, verschwand mein Vater plötzlich und meine Mutter war furchtbar traurig und verzweifelt. Meine Schwester sah, wie sie aus lauter Verzweiflung den Kopf gegen die Wand schlug. Oktober 1967, eine Tragödie hatte sich ins Leben meiner Eltern geschlichen und mit einem riesigen Donner deren Leben regelrecht zerstört. In dieser Zeit ist Klaputek entstanden, in der Einsamkeit einer Gefängniszelle, aus der Sehnsucht nach einer heilen Welt, aus dem Wunsch von Wiedergutmachung und als Möglichkeit, in eine andere Welt zu fliehen. So bekam meine Schwester regelmäßig Postkarten von dem verschwundenen Vater, es hieß, er würde in Bonn arbeiten. Auf den Postkarten waren Bilder von Klaputek und Klaputinchen, es stand immer noch geschrieben, wie sehr er seine Tochter Kattyleinchen vermisse und dass er bald wieder da sein würde. Und mit jeder Karte kam ein Kapitel der Geschichte. Derweil war meine Schwester auch verschwunden, sie war bei ihren Großeltern väterlicherseits auf unbestimmte Zeit untergebracht.

Klaputek wurde unser Hausgeist, der Sachen verschwinden ließ, dem wir Pistazien, sein Lieblingsessen, in den Keller stellten und der nachts den Föhn anmachte oder den Telefonhörer neben das Telefon legte, wenn es in der Nacht geklingelt hatte.

„Klaputek und das Salz für die Suppe. Eine Geschichte vom Waldschlurri, Klaputek und seinem Freund, dem Bartschlurri Knacks“, so ist der vollständige Titel der Geschichte. Sie ist großartig, so wie mein Vater vieles produzierte, was großartig war, und wenn ich das schreibe, dann schleicht sich dieses Gefühl rein, wie kann ich dagegenhalten, wie kann ich daneben existieren? Wird das, was ich jetzt schreibe, durch sein Werk schillern und nicht durch meine Worte, die ich wähle?

Zu jeder Figur, die in unser Leben kam, gibt es eine schmerzvolle Resonanz. Jimmy, der uns wie Klaputek und Ulewuh unser ganzes Leben begleitete und das der Enkelkinder, Nichten, Neffen und Besucher der Familie, Kranke, Teymurin, Niesemann, Fröhlich ist eine Handpuppe mit einem türkisfarbenen Körper, ich weiß nicht, was er darstellt, er hat kugelrunde liebe Augen und eine eckige weiche Schnauze. Ihn bespielt mein Vater wie ein Bauchredner und Jimmy entwickelte einen Charakter, den mein Vater ihm gab. Er war entsetzlich frech, zuweilen hatte ich Angst vor ihm, weil er einen zwar lieb aber doch ungestüm beißen konnte. Er ärgerte meinen Vater immer, redete dazwischen und machte viel Quatsch. Einmal angefangen, durfte mein Vater nicht aufhören, mit Jimmy zu uns zu reden, ich konnte mich vor Lachen nicht halten und gleichzeitig war ich entsetzlich aufgeregt, was er Schlimmes wieder tun würde.

Jimmy war ein Mitbringsel aus Prag, ich wurde zu Oma Aziz gebracht, sie sollte auf keinen Fall verraten, dass der Rest der Familie, aber vor allem meine Eltern verreist waren. Alle meine Tanten und Onkel die noch bei Aziz lebten, waren mit meinen Eltern und meiner Schwester nach Prag gefahren, ich sollte es nicht wissen, ich durfte auch nicht mit, zu klein. Ich war sehr irritiert, dass ich tagelang nicht abgeholt wurde, dass keiner ans Telefon ging, weder im Laden noch zu Hause. Ich war in Sorge. Wo waren meine Eltern, ich fragte meine Oma Aziz, immer wieder, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Ich könnte es jetzt auf die iranische Kultur schieben, dass das da so üblich ist und so weiter, aber das tut nichts zur Sache. Aziz war für mich da, rund, weich und füllig. Sie hat die Wohnung nie alleine verlassen, sie war einfach immer da. Ruhig, zentriert und ausgeglichen.

Eigentlich hätte ich Jimmy hassen müssen, aber das Gegenteil war der Fall. Auch Jimmy lebt heute noch.

Es gibt noch eine weitere wichtige Figur, die diesmal von meiner Mutter eingeführt wurde und die zu unserer Familie gehörte, seitdem ich denken kann. Es war der Kalareh, der Rabe, der immer alles wußte und es meiner Mutter petzte. Er wusste irgendwie sehr sehr viel, zu viel und konnte es nicht für sich behalten. So hörte ich dann zum Beispiel: „Der Kalareh hat mir gesagt, du hast heute mittag deine Suppe nicht aufgegessen und ins Klo gekippt“. Ich war zutiefst entsetzt, woher konnte der scheiß Kalareh das wissen und warum musste er es meiner Mutter sagen. Meine Kinder kennen ihn auch, den Kalareh. Ja, er weiß wirklich viel.

Wir waren eine Großfamilie, es gab neben meiner (Halb-)Schwester und mir noch 4 Familienmitglieder, die ihren festen Platz hatten in unserem Gefüge.  Ulewuh, Klaputek, Jimmy und Kalareh, sie waren sehr lebendig und mit voller Präsenz da, beinahe täglich.

Ich hatte mir doch immer Geschwister gewünscht, ich hatte nicht verstanden, dass ich welche hatte.

Es gab noch eine Halbschwester von meiner Halbschwester, von der niemand etwas wissen durfte, und noch drei Halbgeschwister, die erst sehr spät in meinem Leben zu echten Figuren in einem wirren, staubigen und nebligen Gefüge wurden. Die taugten nicht so viel wie die ersteren.

Wenn ich die Perspektive vom Kalareh, dem Raben, einnehme, dann sehe eine Kindheit, in der es viel Platz für Geschichten, für Geister, Phantasiewesen und unerklärbare Mitbewohner gab, die eine Selbstverständlichkeit in unserem Alltag hatten, unsere Freunde und Helfer oder auch mal wie Geschwister waren.

Sie haben mir mein Leben versüßt, sie haben mich getragen durch schwierige Zeiten, sie sind geblieben, wohingegen viele andere gegangen sind.

So wie mein Vater gegangen ist und mir Platz gemacht hat, dass ich endlich und wahrscheinlich auch dank seines großartigen Einflusses, schreibe, alles, was mir in den Sinn kommt, ungeordnet und ohne Zensur. Es sind meine Geschichten, meine Sprache, meine Figuren. Der Kalareh sagte mir, mach weiter und schreib ein Buch, das wird richtig gut. Und der Ulewhu schubst mich oft an den Schreibtisch und sagt, nu mach schon. Während Jimmy sich entschieden hat, bei meiner Großnichte Nayeli seinen Quatsch zu machen, weil er kleine Kinder liebt und sie ihn ganz besonders doll motivieren. Klaputek hat es sich im Bart meines Mannes gemütlich gemacht, obwohl er ein Waldschlurri ist und kein Bartschlurri. Die Wälder hier in Mexiko sind ihm zu gefährlich, zudem bekommt er hier in Mexiko keine Pistazien und es ist ihm auch viel zu heiß, so hat er sich entschieden, einen ordentlichen Sommerschlaf abzuhalten, bis es wieder Pistazien gibt und kühler wird.

Neben meiner Oma Aziz, was soviel wie „Liebling“ bedeutet, gab es noch Omi, die im Iran lebte und eifersüchtig auf Aziz war, weil ich sie so nannte und sie selbst Omi nannte, was für sie ein deutsches seelenloses Wort war. In Omis Augen, war Aziz keine rechtmäßige Oma. Hinzu kam noch Tata, meine Wahloma, oder Pflegeoma oder Omaoma. Die drei Ewigen stehen für Glaube, Hoffnung und Liebe!

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