Katrin Schielke: „Gefühle sind ausreichend vorhanden“

Kilometer 1

Ich halte mir den schief gewachsenen kleinen Tannenzapfen an die Wange und kratze ganz leicht darüber. Ich bin noch am Leben, wenigstens das.

Wir laufen seit einer halben Stunde um den Tornowsee neben dem Hotel. Warum laufen wir hier eigentlich, es ist doch alles vorbei, denke ich, warum bin ich nicht heute Morgen ganz früh nach Berlin zurück gefahren, warum tu ich mir das an? Auf meiner Brust liegt eine Tonne Blei und ich atme viel zu flach. Jochen läuft ein paar Meter vor mir und ich höre ihn pfeifen, fast fröhlich klingt sein Pfeifen und ich merke, wie mein Puls schneller und mir ganz heiß wird. Denke an gestern Abend.

Wir saßen im Restaurant des Hotels. Ich erzählte ihm, wie man meinem Sohn die Weisheitszähne gezogen hatte und wie er sich, noch immer betäubt von der Narkose, neben mich ins Auto setzte, seinen Kopf nach unten sinken ließ und das Blut aus seinem Mund auf seinen schneeweißen Pullover tropfte.

Jochen hörte mir zu, guckte aber immer wieder an mir vorbei und zwischendurch auf sein Handy. Fragte ihn, interessiert dich nicht, was ich erzähle? Er schaute mich mit seinen klaren blauen Augen an, kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Na ja, ganz ehrlich, so spannend ist das nicht für mich, die Geschichten von deinem Sohn. Ich griff nach meinem Weinglas. Jetzt sei nicht gleich beleidigt, ist einfach so. Ich spürte einen Stich im Bauch, schwieg ein paar Sekunden, dann sagte ich, das ist mein Sohn, der gehört zu meinem Leben, ich hör dir ja auch zu, wenn du von den komischen Waldstücken erzählst, die du als Kapitalanlage gekauft hast. Meine Stimme war lauter geworden. Ja, stimmt, sagte er und trank ganz langsam von seinem Wein. Aber du hast daran genauso wenig Interesse wie ich jetzt an dieser Scheißzahn-OP. Ich nahm das Weinglas, meine Hände zitterten, der Wein schmeckte bitter. Sah aus den Augenwinkeln die Paare, die an den anderen Tischen saßen, hörte ihre leisen Unterhaltungen und die Jazzmusik im Hintergrund. Sah, wie sich manche an den Händen hielten. Ich trank mein Glas aus, ok, dann lass uns jetzt nach oben gehen. Warum das denn? fragte er und schüttelte den Kopf.

Im Zimmer sprachen wir nicht mehr miteinander. Ich ging ins Bad, im Spiegel sah ich blass aus, die Wimperntusche war verlaufen, und irgendwas zuckte an meinem rechten Auge.

Er lag schon im Bett, als ich aus dem Bad kam, sah mich kurz an und sagte dann – es ist vorbei. Ich schaute ihn an. Wie, vorbei, was meinst du? Ja, vorbei, ich will nicht mehr. Nur, weil wir uns gestritten haben? Ja, vielleicht nur deshalb, sagte er, drehte sich zur Wand und lag ganz still.

Kilometer 2

Und jetzt pfeift er sich ein Liedchen. Sogar heute Morgen beim Frühstück hat er gepfiffen. Und dann gesagt, ok, ist jetzt nicht einfach, aber wir machen noch diesen Spaziergang um den See, bevor ich dich zum Bahnhof bringe? Ich hatte fast nicht geschlafen und beim Frühstück konnte ich nicht mehr sprechen, meine Stirn war heiß, als hätte ich Fieber. Es roch nach Kaffee und Toast und frischer Wurst, ich sah die anderen Paare am Frühstücksbüffet, die sich gegenseitig Kaffee einschenkten und vielleicht fragten, willst du lieber Spiegelei oder Rührei? Meine Augen brannten, ich wollte nach Hause, aber wollte auch in die Natur, frische Luft, Bäume, Wasser, deshalb waren wir doch hergekommen. Ich entschied mich für den Spaziergang.

Als wir losgingen, kamen die Erinnerungen zurück.

Hatte ihn auf einer Lesung kennengelernt. Er hatte dem Autor am Ende eine Frage gestellt, so laut, dass alle, die während des Vorlesens weggedämmert waren, wieder aufschraken. Danach wollte ich mir gerade ein Bier holen, als er mich ansprach. Und – wie fandst du es? Er war nicht sehr groß, unter dem gelben Polo-Shirt sah man seine Oberarmmuskeln. Seine Haare waren schon weiß und nicht mehr sehr dicht, aber seine blauen Augen leuchteten und sein großer Mund sah schön aus, als er mich angrinste. Er holte mir ein Bier, fragte nach meiner Nummer und ging.

Beim zweiten Treffen im Park bei mir um die Ecke küssten wir uns. Ich merkte, dass es nicht so richtig harmonierte, er stieß mir seine Zunge in den Mund, aber als ich ihn küssen wollte, war es, als bisse er die Zähne aufeinander und ich kam nicht weiter, nicht tiefer und seine Zunge kam mir nicht entgegen. Wir fuhren zu ihm. Beim Sex fing er an zu stöhnen, wurde immer lauter und als er kam, schnaufte und brüllte er und hörte gar nicht mehr damit auf. Ich wollte nicht lachen, oh Gott, Jochen, bist du immer so laut, deine armen Nachbarn. Er sah mich verwundert an, was wieso? Er war zärtlich, aber etwas stimmte nicht mit seinem Ton. Als wir am nächsten Morgen aufwachten, streichelte er mich und fragte dann plötzlich, soll ich dich noch lecken oder nicht, aber so, als fragte er, isst du lieber Wurst oder Käse zum Frühstück? Ich wollte nicht.

Kilometer 3

Wir kommen zu einem Campingplatz. Er spricht nur noch das Nötigste mit mir. Auf dem Campingplatz sitzen Paare und Familien zusammen, es riecht nach Kaffee, Geschirr klappert. Menschen mit zerrauften Haaren gehen an uns vorüber, grüßen uns, lächeln, und ich denke, so ist das also, jetzt sind völlig fremde Menschen freundlicher zu mir als dieser Mann neben mir.

Besonders freundlich war er ja nie gewesen. Wenn wir bei ihm waren und ich ihm beim Frühstück helfen wollte, sagte er immer in einem Kommandierton, du bist hier Gast, setz du dich mal hin, du musst hier gar nichts machen, wenn ich bei dir bin, machen wir es andersherum. Ich hab das gerne, wenn man mir hilft, sagte ich. Ja, kann sein, aber hier ist das so. Als ich dann doch mal einen Teller in den Geschirrspüler stellen wollte, nahm er ihn mir aus der Hand, zog die Augenbrauen hoch und seufzte. Ich versuchte, mich zu entspannen und zu genießen, die frischen Brötchen, den leckeren Käse und die Erdbeeren.

Kilometer 4

Eine halbe Stunde nach dem Campingplatz sehen wir ein Café am See. Kaffee to go am See von Tornow. Wir setzen uns auf weiße Plastikstühle, die von der Vormittagssonne schon ein bisschen warm geworden sind. Ich sehe Paare, die Boote ins Wasser gleiten lassen, sie verstehen sich ohne viele Worte.

Bei uns war das immer anders. Am Abend vor der dritten Verabredung rief er an und sagte, ich steh hier in Hannover im Stau, weiß nicht, ob ich nicht gleich wieder umdrehe, guck mal morgen in deine Mails, ob wir uns dann zum Frühstück sehen können, ich teile dir sonst zeitnah mit, wann wir uns wiedersehen. Ich war irritiert von diesem Ton und immer öfter verstrickten wir uns in Wortwechsel, in denen er seinen kühlen Kopf behielt und ich immer mehr gegen etwas ansteuerte, das ich selbst nicht verstand. Schiefe Töne, ein Rauschen und Pfeifen, als habe man einen Radiosender falsch eingestellt.

Kilometer 5

Nach dem Kaffee laufen wir weiter. In Berlin wird mein Leben weitergehen, denke ich, ich werde später aus dem Zug steigen, nach Hause fahren, mich an den Küchentisch setzen und ein Bier trinken. Es ist nicht das erste Mal. Ich merke, wie Tränen über meine Wangen rollen, sie fallen auf den trockenen weichen Waldboden und versickern in ihm.

Erinnere mich, dass ich Jochen mal gefragt hatte, ob er Gefühle für mich habe, ob sich das wie Liebe anfühle. Ich wusste es ja selbst auch nicht, war immer mehr am Zweifeln. Liebe, wie, jetzt schon, nach 2 Monaten? Ganz ernst hatte er mich angesehen und dann gesagt – Gefühle sind ausreichend vorhanden. Ich hatte gelacht, weil ich dachte, das sei ein Witz. Er hatte mich verwundert angeschaut.

Kilometer 6

Wir sind fast einmal um den See gelaufen, meine Haare kleben an meiner Stirn, da vorne ist schon das Hotel und hier ein Steg. Wir halten an, ich ziehe meine Sandaletten und mein Kleid aus, setze mich aufs Holz und lasse die Beine ins Wasser baumeln, es ist warm. Er stellt sich neben mich, sieht zum Hotel, legt seinen Rucksack neben sich. Diesen Rucksack, in dem er immer diese hässliche grüne karierte Picknickdecke mit sich trägt, die wir brauchen, wenn wir in die Natur gehen, weil er immer Sex haben will, sobald wir von ein paar Bäumen umgeben sind.

Und dann beginnt er wieder zu pfeifen. Hört nicht mehr auf. Ich sehe ihn an, er schaut über den See. Schiebe seinen Rucksack, der sich schwer anfühlt, langsam vom Steg hinunter ins Wasser, lasse mich dann auch hinein gleiten und tauche unter.

Unter Wasser sehe ich, wie der Rucksack erst schwebt und dann immer tiefer sinkt.

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