Helene Hein: „Lichter auf dem Balkon“

An einem Dienstag der Anruf meines Cousins: „Wir müssen reden.“ „Ok?“ „Die wollen das Haus verkaufen; schon in zwei Wochen“. „Welches Haus?“, will ich wissen. „Das von Omi.“ „Oh Gott“, erwidere ich, „ist Omi damit einverstanden?“ „Natürlich nicht!“ „Wo aber soll sie dann hin?“, frage ich. „Unsere Mütter haben eine kleine Wohnung in der Stadt für sie gefunden“, antwortet er. „Da geht sie doch vor Einsamkeit ein, das können sie nicht machen! Was können wir denn tun? Wir müssen doch etwas tun!“, rufe ich. „Alles ist beschlossen, da ist nichts zu machen.“ Aufpassen müsse man auf die Finanzen, ergänzt er. Ich wusste nicht wie und legte auf.

Vor meinen Augen sehe ich meine Großmutter aus dem Haus die kleine Treppe herunterstürmen und über den Hof in ihre Waschküche flitzen. Sehe sie mit Gießkannen durch die riesigen Blumenbeete wirbeln, die Hühner scheuchen, ihnen die noch warmen Eier unter den Hühnerpopos wegmopsen. Sehe sie nach uns schauen. Wie wir schaukeln, rennen, lesen; auf dem Rasen, auf der Schaukel. Sie steht und strahlt und vergisst darüber fast den Braten. Wenn unser Großvater dann schimpfte, empörte sie sich laut und befahl, er solle sich um die Getränke für die Enkel kümmern. Er brachte uns jedes Mal Süßigkeiten. Nach der Wende meistens für jeden einen „Schnicker“. Dass wir über seine Aussprache lachten, störte ihn nicht.

Ich rufe meine Mutter an. Ja, das sei alles beschlossen und das Beste für alle. Sie könne nach dem Tod des Großvaters nicht mehr allein leben in dem Haus. Sie vergesse einfach zu viel. Das sei für meine Mutter und ihre Schwester nicht mehr zu schaffen. Ich kann mir nicht vorstellen, beschwerte ich mich, wie Großmutter ohne ihr Haus, ihren Garten, ihre Waschküche, ihre Nachbarn weiterleben kann. In einer kleinen Stadtwohnung. Das könne ich alles nicht verstehen, erwidert meine Mutter, ich sei ja viel zu selten da. Ich würde sie nicht so kennen, wie sie das tun. Außerdem würde sie in der Stadt gut versorgt, jeden Tag bekäme sie dort Essen. Und noch einmal: Jeden Tag regelmäßiges Essen.

Zwei Wochen später der Text meiner Mutter: „Du hast noch Sachen auf dem Dachboden deiner Großmutter. Du solltest herkommen.“ Ich sehe zuerst die riesige flache Rasenfläche. Der Hühnerstall ist verschwunden. Meine Mutter und Tante erzählen mir von den vielen Schichten Hühnerscheiße, die sich über Jahre angesammelt hatten; von der Arbeit, die der bestellte Bagger hatte, um alles herunterzureißen. Am Anfang sei die Großmutter immerzu um den Bagger herum gelaufen, bis sie in ihrem Haus eingeschlossen wurde. Um sie zu schützen. Sie ist dann aus dem Badezimmerfenster gesprungen und hatte sich den Knöchel gebrochen. Viele Wochen Krankenhaus, Reha-Zentrum, Heimweh und Einsamkeit. Das hatte niemand gewollt.

Der Dachboden ist voller Kartons. Wir beugen uns tief, fädeln uns durch Spinnweben hindurch. Ich finde meine Akten, Arbeitsblätter, Küchenutensilien. Auch eine Waffe haben meine Mutter und ihre Schwester auf dem Dachboden gefunden. Niemand wusste etwas davon, registriert war sie auch nicht.

Beim Entrümpeln erinnere mich an die Vorfreude als Kind. Sobald das Geräusch des Kopfsteinpflasters unter den Autoreifen zu hören war, konnten wir ihr grünes Haus sehen. Wir hatten kaum geparkt, da ging die Hoftür bereits auf. Strahlen und offene Arme.

Wann eigentlich hatte dieses Haus aufgehört, der Ort zu sein, an dem sich alle an den Feiertagen trafen? Rauchten, tanzten, aßen, spielten, stritten und sich wieder versöhnten? Nach dem Tod des Großvaters, nach deiner Demenzdiagnose? Warum hatten wir das Ausschleichen ignoriert?

Die Töchter und ich schreddern, trennen, entsorgen. Das noch Brauchbare landet vor dem Haus an der Straße. Auf Stühlen türmen sich Schreibzeug, Küchenutensilien, Werkzeuge. Alles zum Mitnehmen. Daneben eine Spendenbox für die Opfer einer Flutkatastrophe, die in der Nähe passiert ist. Immer wieder steckt jemand seinen Kopf durch die Hoftür und will wissen, was los ist. Manche erkennen die Töchter von früher wieder. Beide tatkräftig, schnell, entschlossen. Mit ihrer Kraft hatten sie als Kinder und Jugendliche auch das Haus mit erbaut. Haben mag es nun keine. Manche Neugierige nehmen etwas mit. Ich kann nicht sehen, ob sie die Spendenbox beachten. Alles will die Großmutter gern behalten. Aber die neue Wohnung hat kaum Platz. Ein Mini-Schlafzimmer mit einer Schrankecke, ein Wohnzimmer mit einer kleinen Küchennische, ein Bad und ein Balkon. Meistens sitzt du da.

Du beobachtest die Hundespaziergänger. Von denen gibt es ziemlich viele. Vor deinem Balkon laufen sie an der Mauer entlang, morgens und abends. Immer zur gleichen Zeit. Außerdem siehst du Mülltonnen. Manchmal stört dich der Müll, der aus ihnen quillt. Du willst ihn entsorgen oder dich beschweren.

Als ich dich das erste Mal zusammen mit meiner Mutter in deiner kleinen Wohnung besuche, sehe ich die blutigen Kratzer auf deiner Nase. Immer spielst du mit deinen Fingern am Grind.  „Nervosität“, erklärt meine Mutter. Du willst nicht darüber sprechen. Du freust Dich über die Pflanze, die ich dir mitbringe. Sie bekommt einen besonderen Platz auf dem Balkon. Begeistert schaust du sie immerzu an. Zwischendurch flüsterst du mir zu: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“. Dann kratzt du wieder an deiner Nase.

„Leicht ist es nicht“, seufzt du einige Zeit später am Telefon. Du beschreibst mir die Kirche, die du von deinem neuen Balkon aus siehst. Ihr Läuten. Hineingetraut hast Du Dich noch nicht. Meine Ermunterungen ignorierst du. „Dieser Kirchturm versperrt mir die Sicht“, murrst Du schließlich. Auch die Hundebesitzer seien eine Zumutung. Immer diese Köter, tagein und tagaus. Furchtbar sei das alles.

„Eingelebt habe ich mich noch nicht“, flüsterst du einige Wochen später dunkel in mein Ohr. Den Fernseher hast du ausgeschaltet; du willst nichts schauen. Kein Trost, nirgends. Ich sage, dass das normal ist und Zeit braucht. Nicht sagen kann ich, wie sehr ich mich um dich sorge. Du antwortest, dass du dich immer auf den Donnerstag freust. Mit dem Zug rumpelst du dann zum Club im ehemaligen Nachbardorf. Unterwegs zu deinen schrumpfenden Gefährten. Drei Stunden mit Sekt und Saft und Keksen. „Die anderen sind schneller da“, sagst du. „Aber so tue ich auch etwas für meine Gesundheit“, fügst du schließlich hinzu.

Eines Tages rufst du ins Telefon: „Ich brauche einen Hammer!“ Du willst neue Fotos und Bilder an deiner Wand anbringen. Ich versuche, mich an einen freien Platz an deiner von Fotos tapezierten Wand zu erinnern. Es gelingt mir nicht. Ich frage mich, wie du deine Träume rahmen würdest, wie du Köpfe an Nägel malst und mit Blumen tanzt. Die Blumen. Kein Geburtstag ohne riesige selbst gepflückte Sträuße. Du zwischen den Beeten, der Kopf und die Hände weit unten, die Beine durchgestreckt. In Gymnastik warst du die Beste, hattest du immer wieder stolz erzählt. Auch wenn du heute etwas vom Boden aufhebst, sind dein Rücken und deine Beine kerzengerade.

„Ich wollte einfach mal deine Stimme hören“, verkündest du einmal nachts um elf am Telefon. Ich erinnere mich an den Tag mit dir auf dem Friedhof an Opas Grab. Unzählige Wasserkannen hattest du gefüllt und das Grab schließlich geflutet. Unendlichkeit wolltest du mit mir teilen. Nur nicht zu schnell trennen.

Meistens rufe ich dich sonntags beim Joggen an. Wenn der Wind über die Joggingstrecke weht, rufst du immer: „Oha, was ist denn da so laut bei dir?“ Ich rufe dann zurück: „Der Wind, Omi, der Wind, das himmlische Kind.“ „Ach, das himmlische Kind, ach ja, das da“, erwiderst du sarkastisch. „Was ist mit dem himmlischen Kind, Omi?“ „Mhm …; na ja…. Das wird schon auf uns aufpassen“, und noch einmal kräftiger: „Das passt schon auf uns auf!“

Ich will immer wissen, wie es dir geht: „Gut geht’s mir. Hach ja. Man muss es nehmen, wie es kommt.“ Nach einer Pause ergänzt du dann häufig: „Man muss das Beste daraus machen!“

Manchmal fragst Du auch, wie es mir geht. „Gut geht’s mir, Omi, gut“, sage ich dann. „Wirklich?“, bohrst du mitunter nach. „Ja, wirklich.“ „Und was macht Dein Freund?“, willst du wissen. „Ach Omi, es ist kompliziert“, antworte ich dann. „Das Leben ist kompliziert“, triumphierst du dann; und noch einmal: „Das Leben ist kompliziert!“

„Ja, Omi.“

Bevor ich länger nach Australien reise, will ich dich noch einmal sehen. Man weiß schließlich nie. Richtig toll Essen will ich mit dir gehen in deiner Kleinstadt. Wir haben die Wahl zwischen einer Eisdiele, einem asiatischen Imbissrestaurant und einem Dönerladen. Wir gehen in das asiatische Restaurant. Gebratene Nudeln mit Gemüse, für dich mit Hühnchenfleisch. Du beobachtest die Menschen an den anderen Tischen, die uns ebenfalls mustern. Dann beugst dich zu mir rüber, um mir im hörbaren Flüsterton mitzuteilen, wie unmöglich du die anderen Gäste findest. Als ich dich darauf aufmerksam mache, wie unhöflich das ist, rufst du empört: „Lass mich doch; ich will mich schließlich amüsieren!“

Ich erzähle dir, dass ich für mehrere Wochen nach Australien reise. Du sorgst dich wegen der wilden Türe. Ich frage dich, welches wilde Tier du gern wärst. Eine Schlange willst du auf keinen Fall sein, vielleicht ein Elefant. Den gibt es nicht in Australien, erwidere ich. Dann eben ein Löwe, rufst du bestimmt..

Als wir zurück zu deiner Wohnung gehen, musst du immer wieder Pausen machen. Zu schwer liegen dir die Nudeln im Magen. Du hast keine übrig gelassen. Beim Abschied bestehst du darauf, mit herunterzukommen. Wie früher wartest du zuerst auf dem Fußweg, dann auf der Straße und schließlich auf dem gegenüber liegenden Fußweg und winkst mir nach, bis ich hinter der Straßenecke verschwinde.

Als ich nach meiner Rückkehr mit dir telefoniere, bist du völlig aus dem Häuschen und rufst immerzu: „Das gibt’s ja nicht, dass du wieder da bist. Endlich! Ich habe mir solche Sorgen gemacht. So weit weg.“

Dann erzählst du mir begeistert, wie du gerade auf deinem Balkon gesessen hast. Umsäumt von einer neuen Lichterkette. Alles hat geleuchtet. Ich berichte dir von den Korallen, die ich am Great Barrier Riff gesehen habe. Von dem warmen Wasser, den Farben, ihrer unwirklichen Schönheit. „Wirklich?“, staunst du. „Mensch“, sagst du dann und dehnst das Wort gaaanz lang, „was duuu so alles gesehen hast!“

Dann fügst du hinzu: „Aber mein Balkon mit den Lichtern ist auch schön.“

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