Detlef Siehl: „Ein Tänzer in der Philharmonie“
Ich gehe gerne in die Philharmonie. Schon wenn ich versuche, in dem Gewirr von Terrassen und Treppen meinen Platz zu finden, habe ich das Gefühl, das ganze Haus ist von Tönen und Klängen erfüllt. Ganz anders als in der Nationalgalerie nebenan, wo ich mich in dem lichtdurchfluteten Raum immer frage, wo denn hier irgendwo Bilder hängen könnten. Hier in der Philharmonie aber strebt, schwingt, schwebt, klingt alles, noch bevor der erste Ton erzeugt wurde.
Er saß zwei Reihen vor mir, am Rand der ersten Reihe hoch oben in unserem Block, so dass links neben ihm ein kleines Plateau war, das zu einer Treppe führte, also ein bisschen Platz neben ihm war. Auch rechts neben ihm saß niemand, was ungewöhnlich war, denn meistens sind diese Konzerte ausverkauft. Vielleicht ist sein Begleiter oder seine Begleiterin krank geworden, wer weiß.
Er saß, ohne dass ich ihn beachtet hätte, ohne dass er aufgefallen wäre, nur höchstens durch den freien Platz neben ihm, ohne dass es irgendwelche Anzeichen gegeben hätte. Anzeichen wofür, hätte man sich in diesem frühen Stadium ja auch gefragt.
Noch tuschelten alle mit ihren Nachbarn, ein Stimmengewirr waberte durch das Haus, bis es still wurde und die Größen des Abends, der Dirigent und auch die erste Violinistin klatschend begrüßt wurden.
Dann wurde es ganz still. Vivaldi, vier Jahreszeiten stand auf dem Programm, nicht besonders aufregend, jedes Schulkind wird die Melodien nachpfeifen können. Aber von diesem Orchester, wer weiß, was die daraus machten.
Der Frühling, das bekannte Thema des ersten Satzes ertönte, erst kraftvoll und dann piano, man kennt es ja. Aber was sah ich da zwei Reihen vor mir? Und da die Reihen so steil waren, konnte ich es genau sehen. Da rollte die rechte Schulter dieses Mannes, der da allein saß, leicht, frei in alle Richtungen, die dieses Gelenk erlaubte, und wie die Musik das erste Mal in die Höhe schnellte, ging auch diese Schulter gleich den Violinen in die Höhe, praktisch aus sich heraus, so dass sie beinahe frei zu schweben schien. Und als sich das Thema wiederholte, wiederholte sich auch dieses Spiel mit der Schulter, nur jetzt mit der linken, bis dann beide einen Fluss mit der Musik bildeten, der sich, ich konnte das gerade auf der linken Seite, wo ja kein Sitz war, beobachten, wo sich die Bewegung der Schultern bis in die Flanken fortsetzte.
Und als dann das Gezwitscher der drei Violinen einsetze, wuchs der ganze Rücken über sich hinaus und schien mit Zuckungen hier und da, mit An- und Entspannungen mir vorher völlig unbekannter Muskelpartien in einen Dialog mit sich selbst zu treten. Wie dann die Vögel immer flügger wurden, kamen auch die Arme, als wären es Flügel, dazu. Dieser Mensch schien keine Knochen zu haben, so elastisch wellten sich seine Arme. Bis er schließlich zusammen mit Schulterblatt, Ober- und Unterarm und allen Handgelenken mit sich selbst einen Balztanz zu vollführen schien.
Ich musste die Musik nicht mehr hören, ich sah sie, sie saß vor mir, noch. Jeder Ton, der uns erreichte, wurde von diesem Mann aufgefangen, nach innen geholt und dann wieder nach außen entlassen und jede Bewegung schien genau diesen Ton wiederzugeben, jede Note eine bestimmte Region seines Körpers anzusprechen, genau diese in Schwingungen zu versetzen. Außen und innen und dann wieder außen kommunizierten miteinander in einem harmonischen Dreiklang.
Und als nun der zweite, der langsame Satz begann, dachte ich, da der aufreibende Rhythmus fehlte, dass sich nun auch der Besucher dort vor mir in seinen Sitz zurücklehnen und ganz der Musik lauschen würde. Wie hatte ich mich geirrt. Das vom Orchester gezauberte Blätter- und Gräserrauschen spiegelte sich in seinem Körper. In Schlangenlinien erhob er sich von seinem Sitz. Es war, als trug die von den Klängen gefüllte Luft seinen Körper, wiegte ihn hin und her und wie in einer Spirale drehte er sich von oben nach unten auf den Boden und wieder auf, als würde ein Blütenblatt vom Baum trudeln und durch magische Kräfte wieder aufsteigen.
Beim dritten Satz war kein Halten mehr. Er nutzte jetzt auch die kleine Plateaufläche links neben seinem Sitz, so dass ich ihn noch besser beobachten konnte. Der ganze Körper, Kopf, Hals, Schultern, Arme, Hände, Flanken, Bauch, Becken, Beine, Füße, mein Gott, was haben wir nur alles für Körperregionen und wie lassen die sich biegen, schütteln, strecken, dehnen, schaukeln. Mal war er blitzschnell. Noch stand er und schon war er auf dem Boden und sofort wieder aufrecht, als wäre keine Zeit vergangen. Er beherrschte aber auch das Gegenteil. Im Zeitlupentempo breitete er seine Flügel aus, als würde er sich auf den Abflug vorbereiten. Dann ging eine Welle von der rechten Hand durch den ganzen Körper, bis sie die linke erreichte.
Ich war so von ihm fasziniert, dass ich zunächst gar nicht bemerkt hatte, dass nun auch die Zuhörer in der Reihe vor mir damit begonnen hatten, ihre Schultern zu rollen, ihre Oberkörper zu schwingen und schließlich hielt auch sie nichts mehr auf den Plätzen. Sie alle legten sich in die Töne, nahmen Arme und Beine hinzu. Alles wirkte so leicht, so schön, dass auch ich mich diesem Reigen anschloss. Allerdings mit Bedacht, ich wollte meinen Beobachterposten nicht verlassen.
Und da wir vom gegenüberliegenden Block gut gesehen werden konnten, sah ich, dass sich unsere Bewegung nach dorthin übertragen hatten, als wären wir durch unsichtbare Bänder verknüpft. Da spiegelte sich unser Wiegen, Rollen, Schütteln. Weiche, elegische Bewegungen, dann wieder harte, runde, eckige, schnelle, langsame, kleine, große, kantige, heitere, zackige, kreisende.
Ich war verblüfft. Wie ich einen Blick in die große Runde der Philharmonie warf, es schien so etwas wie eine Welle durch den Raum zu gehen. Block für Block erhoben sich, selbst die Besucher auf den teuren Plätzen. Ich sah, wie sie sich erst erschrocken umblickten, dann aber konnten auch sie sich nicht halten und so bewegten sich in jedem Block die Menschen. Es war eine Woge, die die Töne aufgegriffen hatte, sie in die Körper hineinspülte, sie dort pulsieren ließ und dann einfach hat fließen lassen.
Und jetzt stand auch das Orchester auf und wurde mitgerissen von dieser Stimmung, tanzte, flanierte, mischte sich unter das Publikum. Vivaldi hatte uns alle beflügelt.
Und als das Stück vorbei war, setzte tosender Applaus ein und alle, das Orchester und der Dirigent eingeschlossen, blickten hinauf zu unserem Block und jubelten ihm zu, dem Tänzer der Philharmonie. Er stand immer noch auf dem kleinen Plateau neben seinem Sitz, drehte sich nach allen Seiten, verbeugte sich leicht und tief und lächelte in sich hinein.