Barbara Gase: „Die Bergtour“

Der Himmel trägt Grau über dem Berg. Ein glänzendes Grau wie der gewaschene schwankende Berg. Birke Seidler schwankt im Regen durch das Unterholz des Waldes. Sie läuft Zickzack. Wie vom Blitz getroffen.

Auf dem Fußboden hatte ein Mäanderband gezickzackt. An jenem Abend. Der Boden, auf dem Birke mit Unterleibsschmerzen gelegen hatte.

Eine Blaumeise war im Wald vom Ast gefallen. Sie liegt auf dem matschigen Boden und fächert sich Luft mit den Flügeln zu. Den Blick hat sie starr nach oben gerichtet zum Nest in der Baumhöhle. Das Nest besteht aus Plastikwolle, Papierstreifen und Tannennadeln. Die Kleinen sind noch nicht da. Sie sind schon zu hören hinter der weißen Schutzschicht.

Poch. Poch. Poch.

Die Meise stirbt.

Birke Seidler sucht Schutz vor dem Niederschlag unter dem dichten Blätterdach einer Buche. Sie stellt den Rucksack ab. Er ist schwer. Kein Tag für eine Bergtour. Vor ihr liegt die tote Meise. Sie begräbt sie und legt Zweige auf ihr Grab.

Sie duschte an jenem Abend viele Stunden. Sie kauerte auf dem Boden der Duschkabine und ließ das Wasser laufen, laufen, laufen. Und streckte ihre Hände nach oben wie ein Chirurg seine grünen Gummihände in die Höhe streckt nach der Desinfektion.

Der Name Birke war Mutters Idee gewesen. Birke war eine Hausgeburt. Die Mutter hatte in den Wehen liegend aus dem Fenster gestarrt und die schwankenden Bäume davor angeschrien. Eine Birke war dabei gewesen. Damals hatte es auch geregnet. Der Vater saß in der Küche und rauchte. Er starrte auf die Wachstuchdecke, die auf dem Tisch lag. Grün gemustert, ein schwammiges Grün. Seine Hände waren behaart und zitterten, als er die Zigarette ausdrückte.

Im Wohnzimmer ordentlich aufgeräumte Schränke und saubere Gardinen. Nirgends ein Staubkorn. Ein leergebrülltes Gebiet. Eine Zone. Für ein Duell. Für Worte wie Stiche mit der Tätowier-Nadel in tiefe Hautschichten. „Ich wasch dir den Mund mit Seife aus“, sagte die Mutter, ihr Rock war immer eine Handbreit unterhalb des Knies. Er verrutschte nie. Eine starre Ordnung. Die Gesichter der Eltern waren aufeinander eingespielt. Sie hatten Münder, die wie fleischfressende Pflanzen aussahen.

Jahre später verschwand der Vater. Er ließ alles zurück. Das Haus. Das Haus mit verbogenen Hausbriefkästen, heraushängenden Prospekten, einem Lichtschalter mit grün fluoreszierendem Nachtlicht, und er ließ auch das schwammige Grün des Wachstuchs zurück. Ein Geschmack nach Unklarheit blieb.

Der Regen hört schlagartig auf. Birke schultert den Rucksack und läuft den schmatzenden und saftigen Weg entlang. Es tropft von den Zweigen. Der Wald riecht sauber und geheimnisvoll. Ein Vogelschrei, ein Raunen der Baumkronen, sonst ist es still. Sie fällt in einen monotonen Gang wie ein trabendes Pferd.

Das Blut auf dem Boden war schnell getrocknet an jenem Abend, dunkelrote Flecken und Spritzer auf dem akkuraten Fußbodenmuster. Selbst an der Wand. Eine weiße Rauputzwand. Weiß ist die Farbe der Einsamkeit. Kristallhartes Weiß. Das Weiß von Bettlaken und das Weiß von Schnee. Das Weiß von weißem Haar alter sterbender Menschen und von bleicher Haut von Kindern.

Birke schleppt sich in ihren schweren Wanderschuhen den geschlängelten Pfad hinauf. Der Berggipfel liegt im Nebel und ist nur zu erahnen. Der Weg wird immer steiniger. Die Steine sind glitschig und kullern bei jedem Schritt beiseite. Kleine Geröll-Lawinen. Sie stapft beharrlich immer weiter, immer weiter hinauf, bleibt nur einmal stehen, um sich zur Stadt umzublicken, deren Lichter und Geräusche immer kleiner und leiser werden. Obwohl es erst Nachmittag ist, dämmert es schon.

Der Raum, in den sie die behaarten Hände mit dem Küchenmesser in der einen Hand gezogen hatten, war schattig und kühl. Sehnige muskulöse Arme. Sie wurde gestoßen und fiel auf den Steinboden. Er war sofort über ihr, riss die Kleider auf. Er quetschte ihre Brustwarzen. Das Messer immer an ihrer Kehle, aus der sie keinen Laut ausstoßen konnte. Sein steinhartes Fleisch stieß zu, immer wieder. Ein Schnitt an der Kehle. Schmerzen bis in die Eingeweide. Ein Wolfsriss.

Zementfliesen mit Arabesken und Vektoren. Ein Mäanderband auf schwarzem Untergrund. Rote Flecken verschandelten das vornehme Muster.

Nachdem er verschwunden war, krümmte sie sich zusammen und blieb liegen. Ihr Körper brannte und explodierte. Bis sie sich hochrappelte, vergingen drei Stunden. Sie kletterte auf den Küchenschrank. Hoch in die Höhe. Das war der sicherste Ort.

Sie erreicht die Bergspitze. Nur noch rutschige Felsen. Der Nebel liegt jetzt im Tal.

Ein Schritt in die falsche Richtung und Birke Seidler würde ausrutschen, so wie ihr gesamtes Leben ins Rutschen gekommen ist. Ihr Körper würde fallen und dumpf auf einem Felsvorsprung aufprallen.

Zwei Bergsteiger nähern sich dem Gipfel, sie keuchen.

„Siehst du die Frau dort auf dem Felsen, eine Wanderin über dem Nebelmeer.“

Er lächelt und zeigt nach vorn.

„Wie sie sich auf den Stock stützt und das kurze blonde lockige Haar, genau wie auf dem Poster im Bahnhofswartesaal in Greifswald.“

Sie wedelt aufgeregt mit den Händen.

„Mach schnell ein Foto, bevor sie merkt, dass wir hinter ihr stehen“, flüstert sie.

Er zückt das Smartphone.

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