Annette Hautumm: „Erzählzeit“

Als kleines Kind wollte ich immer gerne dahinter sehen, hinter das Glasauge. Großvater trug eine schwere, dunkle Brille, die über die Jahre Abdrücke auf seiner hageren Nase hinterlassen hatte. Nur das linke Glas half ihm beim Sehen. Auf der anderen Seite war mit einem Draht eine starre Nachbildung eines Auges befestigt, die den Schein eines heilen Gesichts aufrechterhalten sollte. Als Kind sah ich ihn nie ohne diese Brille. Später wohl – da war er alt und pflegebedürftig und lebte bei uns. Jeden Abend half ich ihm beim zu Bett gehen. Die Brille wurde abgelegt und ich blickte in die tiefe, leere Augenhöhle, die mit feiner, rosiger Haut überwachsen war.

Opa Wilhelm war von meinen Großeltern derjenige, der die anderen überlebte und das höchste Alter erreichte. 1887 geboren starb er 1974 im August, wenige Tage nach seinem 87. Geburtstag an einer banalen Erkältung.

Ich mochte Opa Wilhelm sehr. Auch wenn ich ihn während unserer Zeit in Luxemburg nur gelegentlich traf, erinnere ich mich an viele Details: Seine braune Aktentasche mit den Metallschlössern und dem dicken Riemen in der Mitte, die er mit sich trug, wenn er das Haus verließ. Seine Kleidung – stets trug er Hosen mit Aufschlag, Hemd, Pullover und Jackett. Seinen verschmitzten Blick, seine kühlen Hände mit den langen Fingern. Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand waren leicht gelb gefärbt vom Nikotin. Er rauchte HB. Der fast kahle Kopf wurde in meiner Erinnerung sommers wie winters von einer schwarzen Baskenmütze warmgehalten. Mager war er und groß – irgendwie zu groß für das kleine, alte Haus in der Unterstadt, in dem er mit meiner Großmutter Therese und deren unverheirateter Schwester, der Großtante Finchen, lebte. Die Stübchen waren klein, ziemlich dunkel und verwinkelt. Geheizt wurden nur die Küchen. Der schmale, bläulich gepflasterte Hof, in dem früher Kaninchenställe gewesen sein mochten und Brennholz lagerte, war unser Spielplatz. Auf diesen wurden wir drei Kinder immer dann geschickt, wenn wir unsere kleinen Gläschen mit Zuckerwasser ausgetrunken hatten und die Erwachsenen Dinge besprechen wollten, die nicht für unsere Ohren bestimmt waren. Am Ende dieses Hofs befand sich eine hohe, grüne Lattentür, durch die man in den angrenzenden kleinen Garten trat.

Meine Großmutter Therese – ein Jahr jünger als Großvater – war durch Diabetes und eine missglückte Operation erblindet und verließ ihren Platz nahe dem Küchenherd nur noch, wenn man sie zu beiden Seiten fest unterhakte. Und auch dann lief sie unwillig und unsicher, den Kopf nach unten gerichtet, als würde sie den Weg vor sich erkennen wollen. Blind zu sein hatte sie aus dem Leben geworfen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je mit ihr sprach, obwohl ich schon neun war, als sie starb. Ihre etwas schrullige Schwester Finchen bietet deutlich mehr Stoff für Geschichten.

Aber zurück zum Großvater: Er war ein wunderbarer Erzähler. Ich erinnere mich gut daran zurück aus der Zeit, in der er bei uns wohnte. Seine Geschichten erweckten Erlebnisse aus dem ersten Krieg und einem kleinstädtischen Alltag der 20er und 30er Jahre zum Leben, der in den Siebzigern schon wirkte wie diese älteren Fotos mit dem Braunstich und den geschwungenen Rändern. Als junger Mann war Großvater – frisch verheiratet – in den ersten Weltkrieg gezogen. Entgegen dem, was mittlerweile von den Gräueln der Schützengräben bekannt ist, hörten sich seine Geschichten sehr nach Jungmännerabenteuern an: Wie er mit seinen Kameraden von der Westfront in den Zug verladen wurde, wie sie in Hermeskeil im Hunsrück ein totes Pferd aus dem Waggon warfen und dass sie wussten, dass es gen Osten ging, nachdem der Zug mit hohlem Widerhall die eiserne Rheinbrücke überquert hatte. Eine Typhuserkrankung kostete ihn einen Teil des Magens. „Aber täglich gab es Schnaps. Mehr Medikamente gab es nicht.“ Hatte ihm das alles gefallen?

Sein Schwager Adam kehrte nicht nach Hause zurück. Die Benachrichtigung, ein vergilbter, halber DIN A 4 Bogen an den Vater aus dem Jahr 1916 habe ich in meinen Unterlagen: „Berlin, den 17.August 2016: Das Kriegsministerium Zentral-Nachweise-Bureau hat die traurige Pflicht Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Musketier Adam Hüfner, geboren am 26.2.95 am 30.9.1915 bei Samostje auf dem Felde der Ehre für das Vaterland gefallen ist (Kopfschuss).“

Über die vielen Schrecken dieser Zeit sprach Großvater mit uns nicht. Allerdings – die Stätten des Krieges übten auf ihn wie auf meinen Vater eine gewisse Anziehungskraft aus: So besuchten wir als Familie häufiger die Mahnmale in Verdun, standen dort im sogenannten Beinhaus und blickten über die Friedhöfe mit den nicht enden wollenden Reihen an weißen Kreuzen über den Gräbern der toten Soldaten. Als Kind verstand ich nicht, warum wir dorthin fuhren. Und niemand versuchte, es mir zu erklären.

Opa hatte das Glück zurückzukehren und konnte seinen Sohn und sein einziges Kind, geboren im Februar 1918, in die Arme schließen.

Die schwierigen Jahre in Deutschland und Europa, die auf den ersten Weltkrieg folgten, gingen auch an den Bewohnern des kleinen Hauses in der Unterstadt nicht ohne Verwerfungen und Krisen vorbei: Der Großvater arbeitete als Gießermeister in einer Fabrik nahe der Bahn. Großmutter trug zum Familieneinkommen durch abendliche Heimarbeit bei, die Großtante nähte in einem „herrschaftlichen Haus“. Kleine Geldreserven schmolzen mit der Inflation zusammen. 1927 hatte Großvater während eines Gusses durch umherspritzendes flüssiges Eisen sein Auge eingebüßt und erhielt das Glasauge, das mich als kleines Mädchen so neugierig machte. Einige Jahre später, im Zuge der Weltwirtschaftskrise, verlor er seine Arbeit. Mit dem Beginn der Nazizeit ging es für ihn wieder aufwärts. Zunächst hielt er als Katholik weiterhin treu zum Zentrum. Mitte der 30er begeisterte er sich dann doch für die Nationalsozialisten. Die Korrespondenz zu seiner Entnazifizierung durch die Amerikaner fand ich eines Tages beim Aufräumen. Aufgrund seines Alters und seines Arbeitsunfalls war er nicht mehr zum Kriegsdienst eingezogen worden. Von all dem und dem schweren, existenzbedrohlichen Unfall war in meiner Erinnerung nie die Rede: Seine Wortgemälde und pittoresken Geschichten drehten sich um Ausflüge mit dem geliebten Männerchor, um Besuche in den einschlägigen Wirtshäusern, um fröhliche Sonntagswanderungen in die nahe gelegene Rhön. Unvermeidlich stimmte er das passende Lied zu den Szenen an, die er heraufbeschwor. „Mein Herz ist wie ‚ne Wurstfabrik, die Mädchen drinnen sind die Würste“ gehörte genauso dazu wie „Schwarzbraun ist die Haselnuss“. Er verfügte über ein großes Repertoire verschiedenster Lieder von a wie anzüglich bis w wie
weihnachtlich. Regelmäßig ging er als Rentner mit seiner braunen Aktentasche in die nahe Stadtmitte, kaufte „gute Butter“, gönnte sich und den beiden Frauen im Haus gelegentlich den Luxus eines Stücks Crèmetorte, kaufte mir einen Butterwickel.

Nach seinem Einzug bei uns wurde seine bevorzugte Erzählzeit die halbe Stunde nach dem Mittagessen: Noch heute sehe ich ihn am schmalen Ende sitzen – körperlich zusammengesunken, zur Stütze fest an den Tisch gerückt und inzwischen auf dem verbliebenen Auge fast blind. Die unvermeidliche Baskenmütze auf dem Kopf. Vor sich hatte er seinen metallenen Aschenbecher in Form eines Katzengesichts, den er selbst vor langer Zeit gegossen hatte. Er ertastete sorgfältig und leicht zittrig die Form der Katzenohren und die Umrisse damit nichts von der Zigarettenasche danebenfiel. Meine Mutter wusch ab, ich half ihr. Das Geschirrklappern muss wie ein Auslöser gewirkt haben und er setzte mit seiner weichen, dialektgefärbten, nicht mehr ganz festen Stimme an: „Ich weiß noch, damals, in der Windmühl, da gingen wir immer hin nach dem Singen …“. Und in unserer Küche lebten für kurze Zeit das Wirtshaus, die schillerndsten Charaktere auf. Männliche, trinkfeste Draufgänger wie er selbst. Verwickelt in die merkwürdigsten Alltagssituationen.

Wenn die Küchenarbeit erledigt, seine Zigarette aufgeraucht und der Katzenaschenbecher wieder verstaut war, brachten wir ihn runter in sein Zimmer. Im Sessel machte er – wie immer gut eingepackt gegen die Kälte in den Knochen – einen Mittagsschlaf.

Opa Wilhelms Stimme in meinen Ohren wird nun immer leiser, die Lücken in den erinnerten Geschichten größer. Zeit, sie aufzuschreiben.

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