Von der Figur zur Geschichte

Wusstet ihr, dass zu viel Phantasie schlecht für das Schreiben von Geschichten sein kann?

Ihr dachtet immer, man müsse besonders phantasievoll sein? Und habt euch deshalb noch nicht an das Schreiben herangetraut?

Ich habe eine gute Nachricht für euch.

Geschichten werden nicht erfunden, Geschichten werden entwickelt. Und Entwickeln bedeutet nicht, dass man wie wild neue Ideen aneinanderreiht, die jede für sich genommen vielleicht interessant, zusammen gesehen aber eher verwirrend sind.

Eine Geschichte zu entwickeln, bedeutet sich an den Emotionen und Zielen der Figuren zu orientieren und deren Handlungsbögen und emotionale Bögen nachzuvollziehen.
Die Schreibenden vollziehen nach, was die Figur vorgibt. Sie erfinden nichts.

Ist das nicht langweilig?, fragt ihr vielleicht.
Das Gegenteil ist der Fall. Auf diese Weise bekommt die Geschichte Tiefe und Zusammenhalt und die Figuren werden lebendig. Es geschieht genau das, was sich jeder Autor und jede Autorin für die Geschichte wünscht.

Wie geht das?

Figuren haben – wie Menschen – innere Konflikte.
Im Gegensatz zu uns sollen sich Figuren aber nur mit einem, wenn auch sehr ausgeprägten, inneren Konflikt herumschlagen.
Zu viele innere Konflikte verwaschen die Figur – und wir wissen bereits: Geschichten gehen in die Tiefe, nicht in die Breite. Geschichten sind Kunst und keine Wirklichkeit. Und Kunst ist „Verdichtung“.

Diese inneren Konflikte haben Figuren, lange bevor die Geschichte beginnt. Sie leben – wie wir Menschen – mit ihnen und unterdrücken sie.

Hier kommt die Figurenarbeit ins Spiel.
Während der Figurenarbeit, die vor der eigentlichen Schreibarbeit liegt,  entwickeln ihr eure Figur und legt damit auch den inneren Konflikt fest. Er hängt mit der Vorgeschichte der Figur zusammen.

Kindheitserinnerungen können nicht nur uns Menschen, sondern auch Figuren für ein ganzes Leben prägen – und z.B. Verlustängste, Selbstwertprobleme oder eine extreme Unlust, Verantwortung zu übernehmen, hervorrufen.

Wenn ihr mehr über Figurenarbeit wissen wollen, dann lest den Post über „Die Figur“ in diesem Blog.

Figuren unterdrücken ihre inneren Konflikte – das können sie aber nur so lange, wie wir Autoren es zulassen.

Um eine Geschichte zu beginnen, müssen Autoren und Autorinnen die Figur in das Szenario hineinwerfen, das den inneren Konflikt an die Oberfläche bringt.
Der innere Konflikt muss zum äußeren werden.

Die dramatische Grundsituation muss stimmen – sie muss auf die Figur zugeschnitten sein.
Diese Situation wird die Figur in all das hineinwerfen, was sie unter allen Umständen vermeiden will. So kann sie über sich hinauswachsen. Oder sie schafft es eben nicht zu wachsen. Nicht immer gibt es ein „Happy-End“.

So ist – ganz nebenbei – auch die größtmögliche Fallhöhe garantiert – und damit die größtmögliche Spannung für die Geschichte.

Es ist nicht so leicht, den richtigen Beginn für eine Geschichte zu finden. Was ist die richtige dramatische Ausgangssituation, die den inneren Konflikt zum Ausbruch bringt? Eine wichtige Frage in der Stoffentwicklung.

„Harry Potter und der Stein der Weisen“ beginnt, als Voldemort versucht, Harry Potter zu töten und dadurch selbst fast vernichtet wird.
Der innere Konflikt von Harry wird gesetzt: Er hat keine Eltern mehr (Voldemort hat sie getötet) und muss in einer Umgebung aufwachsen, die ihn weder liebt, noch haben will.
Was wir noch nicht wissen: Ganz ähnlich ist auch Voldemort aufgewachsen – und damit ist er Potters Schatten. Beide Figuren haben eine ähnliche Vorgeschichte. Aber einer entwickelt sich in die gute, der andere in die böse Richtung.
Auch der äußere Konflikt wird mit dem Beginn gesetzt: Wer wird überleben – Harry oder Voldemort?
Das ist also ein Kampf zwischen Gut und Böse (äußerer Konflikt) – und beide stammen aus der gleichen Wurzel (innerer Konflikt).

Die preisgekrönte Kurzgeschichte „Brokeback Mountain“ von Annie Proulx beginnt im Wohnwagen von Ennis del Mar.
Sein Leben wirkt sehr armselig auf den Leser – aber das Lustgefühl, das er für Jack Twist empfindet, macht die Figur lebendig. Dieses Lustgefühl ist der innere Konflikt von Ennis.
Denn mit Jack lebt Ennis seine Homosexualität aus. Rasch wird die Gesellschaft auf die beiden Männer aufmerksam, sie wächst zum Antagonisten der beiden heran und vernichtet schließlich ihre Liebe.
So ist aus dem inneren Konflikt der Homosexualität der äußere Konflikt mit der Gesellschaft geworden, den diese auch gewinnt.

Soweit zwei Beispiele.

Sobald die Schreibenden die dramatische Grundsituation gefunden haben, in der sich der innere Konflikt zum äußeren weiten kann, wird die Figur versuchen, aus diesem Schlamassel herauszukommen.
Das schafft sie aber nur in dem Maße, indem sie sich über ihren inneren Konflikt bewusst wird. Denn aus dem inneren Konflikt ist der äußere ja erwachsen.

Man könnte auch sagen, dass sich Handlungsbogen und emotionaler Bogen gegenseitig bedingen.
Der Handlungsbogen zeigt, wie die Figur versucht, ihren äußeren Konflikt zu lösen. Der emotionale Bogen beschäftigt sich mit dem inneren Konflikt der Figur und zeigt einen Bewusstwerdungsprozess.

In dem Maße, in dem die Figur sich ihres inneren Konflikts bewusst wird, kann sie auch ihren äußeren lösen.

Das Äußere wirkt aufs Innere, das Innere aufs Äußere ein: Aktion, Reaktion, Aktion, Reaktion – das ist eine Geschichte.
Und keine lose Sammlung – vielleicht sehr phantasievoller – Ideen.

Zuletzt:
Es gibt auch Figuren, die ohne inneren Konflikt auskommen.
Triviale Figuren sind das, die in ihrer Handlungsweise dem Schema des vorgegebenen Genres (im Heftroman) folgen.
Sie kämpfen sich durch jede Situation, beschützen die Welt vor bösen Geistern (John Sinclair) oder vor ebenso bösen Verbrechern (Jerry Cotton).

Hier ist der innere Konflikt, das „Böse“ – mit dem die komplexere Figur im Mainstream und im Anspruch auch in sich kämpfen muss – ganz nach außen gewandert.
Weder Jerry Cotton noch John Sinclair stellen ihre Handlungsweise in Frage, es gibt nur diesen einen äußeren Konflikt, dem sich die Figuren immer wieder stellen.