Sterben

Es tropfte aus dem Hahn.

Sie hatten den Vater verlegen wollen, gleich als sie angekommen waren, aber er widersetzte sich der Tochter, dem Schwiegersohn, dem Enkel. Das war sein Zimmer, das einzige mit Becken, auch wenn er sich nicht mehr darin wusch. Was machte es schon, dass es tropfte.

Fernando lauschte dem Aufprall.

Undicht, dachte er, dann nahmen die Schmerzen wieder zu. Das alte Holzbett knarrte, wenn er sich bewegte. Allerdings hatte er das sich Hin- und Herdrehen in den letzten Tagen – er war sich nicht sicher, wie viele Tage es waren – er hatte das schmerzhafte Drehen des Körpers unterlassen zu Gunsten eines Anziehens und Ausstreckens der Arme und Beine.

Fernando war 102 Jahre alt und darauf war er stolz. Auch wenn seine Haut papieren war und sein Gesicht mehr Falten warf als der alte Rock seiner Mutter, den sie – wie lang war das her – eben damals getragen hatte. Damals, als der Blick aus dem Fenster noch unverstellt auf die Weinberge ging, damals, als man sich hier immer – immer – vor dem Essen bekreuzigt hatte, damals, als sein Vater. Nein, daran wollte er nicht denken, er hatte es ihm schon lange verziehen, auch wenn er die Stockhiebe noch spürte, aber nein, er spürte nur sein Bein, er hatte es zu ruckhaft bewegt und jetzt schmerzte die linke Seite seines Körpers.

Eigentlich lachhaft die Schmerzen, das Alter, was aus einem wird, hätte er das gewusst als junger Bursche, als Mann, hätte er gelacht? Ein Geräusch drang aus seiner Kehle, nicht Lachen, nicht Röcheln, etwas dazwischen, schließlich lag er im Sterben.

Seine Tochter, die jüngere, die weichere, stand in der Küche, kochte Suppe, Gemüse und Fleisch, sie glaubte, der Vater käme wieder zu Kräften. Aber 102, ich bitte dich, hatte er ihr entgegengeröchelt, als sie dem Vater zugezwinkert hatte, der das Zwinkern erwiderte, so gut es ging, seine Augen tränten ständig. Der Enkel hatte seine Hand gedrückt, er spürte es noch, hoffte, kein Knochen sei gesplittert.

Aber was machte das, 102.

Seltsam klar war Fernando heute, er fühlte nicht nur den Schmerz stärker, er fühlte auch den Luftzug von den Fenstern, fühlte die Kühle vom Bezug, dem guten, unter dem er lag, das dicke Kissen unter seinem Kopf.

Kurz vor dem Tod gibt es den Moment der Klarheit, hatte er gehört, bei Nachbarn, Verwandten, wenn sie starben, und jetzt er. Klar sah er, dass er ein gutes Leben gehabt, dass alles zur rechten Zeit und am rechten Ort seinen Platz gefunden hatte. Jetzt konnte er das Kunstwerk sehen, das sein Leben gewesen war. Aber Frau, Kinder, Enkel, sein Kunstwerk driftete davon. Musste er es nicht festhalten, sich klammern an dieses Werk, das sein Leben war?

102 Jahre, er schloss die Augen.

Der Duft der Suppe wehte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Der Hahn tropfte.

Reparieren, dachte er noch, aber es war nur ein kurzes Aufbäumen, dann driftete er davon.

 

 

veröffentlicht im November 2018 als „Sterben“ in der Anthologie zum 4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018, Hrsg.: Christoph-Maria Liegener, ISBN: 978-3-7469-9245-7