Goldkrone
„Er ist weg!“ Ihre Tochter hämmerte gegen die Badezimmertür. „Mami!“
Helena erhob sich ächzend vom Toilettendeckel. Ihr wurde schwindlig, dann beruhigte sich ihr Kopf. Das Holz des Türrahmens bebte, für eine Achtjährige hatte L viel Kraft. Helena nannte ihre Tochter immer nur L, ganz so, als wollte sie nicht zu viel Atemluft verschwenden.
„Mami! Mami!“
Sicher waren das Geschrei und die Schläge auch in der Wohnung oben zu hören. Hoffentlich kam die Scheißtante nicht runter, um zu sehen, ob sie ihre Tochter quälte. Helena öffnete den Badezimmerschrank, nahm die Ohropax-Schachtel heraus, klappte sie auf und sah auf die hautfarbenen Wattebüsche, die die Wachspfropfen umhüllten. Sie wollte zurück ins Bett. Schlafen.
Im Flur fing L an zu heulen.
Das letzte Mal hatte die Scheißtante von oben mit dem Jugendamt gedroht. Seufzend verschloss Helena die Packung Ohropax und steckte sie in die Tasche ihres Bademantels. Als ob sie ihrer Tochter etwas tun würde. Sie warf einen Blick in den Spiegel, ignorierte ihr aufgedunsenes Gesicht, strich über ihr Haar. Sie war immer noch naturblond. Die grauen Haare zupfte sie mit der Pinzette aus. Wieder erschütterte ein Schlag die Badezimmertür.
„Er ist weg, Mami!“
Helena öffnete die Tür. „Was ist weg?“ Sie musterte ihre Tochter, die mit hektischen roten Flecken auf den nassgeweinten Wangen vor ihr stand.
„Tobi!“ L stampfte mit dem Fuß auf.
„Is ja gut“, murmelte Helena.
L wischte mit dem Ärmel des Pullovers über ihr Gesicht, verschmierte Rotz und Tränen. Dann reckte sie sich zu Helena hinauf. Schnupperte. „Mami, du hast doch nicht schon wieder getrunken?“
Helena zuckte die Schultern. „Nicht im Bad“, sagte sie und das stimmte auch. „Tobi?“, fügte sie hinzu. Das klang, als hätte sie die Existenz des Dackels vergessen, und es irritierte sie kurz. Dann fand sie zu ihrem Gefühl für den Hund zurück. Der Vater ihrer Tochter hatte L den verfluchten Dackel geschenkt und Helena hasste ihn genauso wie ihren Exmann. Der hatte sie und seine Tochter wegen einer kinderlosen Anderen kurz nach L’s Geburt verlassen. Zu viel Lärm, wie er sagte.
„Scheiß auf Tobi.“ Helena sah, wie L zusammenzuckte. Das Mädchen hing an dem verfluchten Tier.
„Dann gehen wir ihn eben suchen“, sagte Helena, machte aber keine Anstalten, das Bad zu verlassen und sich anzuziehen. Mit erneutem Geheul stürzte sich L auf sie und schlug mit den Fäusten gegen ihre Brust.
„He“, sagte Helena. Mehr nicht, nur he. Die Schläge ihrer Tochter taten weh, Helena verzog das Gesicht. Gut, sie würde den Dackel mit L suchen, statt ins Bett zu gehen. Damit das Kind Ruhe gab. Schon wegen der Scheißtante von oben.
Aber zuerst suchte Helena ihre Zigaretten. Küche, dachte sie und tastete sich an L´s Fäusten vorbei in den Flur. Die Schläge ihrer Tochter hatten in Helenas Kopf eine unangenehme Schwingung ausgelöst und sie wankte auf dem Weg zur Küche. In der Tasche ihres Bademantels warteten die Ohropax auf sie. War doch egal, wo der Köter war. Und die Tante von oben. Ach, Scheiß drauf.
Plötzlich regte sich etwas in ihrer Erinnerung. Da war eine Ahnung. Tobi. Vielleicht gab es etwas, das sie tun konnte. In Punkto Tobi. Ihre Finger spielten mit der Schachtel Ohropax. Langsam ließ der Schwindel nach. Sich abzulenken, brachte was. Tobi.
L hing wie eine Klette an ihrem Bademantel. „Mami?“ L’s Stimme kreischte.
Auf dem Küchentisch!
Neben einer Schale, in der ein Rest Milch mit aufgeweichten Cornflakes schwamm, lag eine Zigarettenschachtel. Leer, verflucht. Helena zog eine Schublade auf, noch eine. Zur Hölle, wo hatte sie die Scheißdinger hingelegt? Hatte sie einen Filmriss gehabt, gestern Abend? War wohl so gewesen. Sie konnte sich weder erinnern, wohin sie die restlichen Schachteln gelegt hatte – es war eine Stange gewesen! – noch, wie sie ins Bett gekommen war. Dafür sah sie eine leere Flasche Goldkrone neben dem überlaufenden Mülleimer stehen.
„Mami!“ L zerrte an ihr.
Der Schwindel nahm wieder zu. Helenas Hand umschloss die Schachtel Ohropax, zog sie aus der Tasche, während die andere wie automatisch über den Kopf ihrer Tochter strich. Dann hielt sie eines der Bällchen zwischen den Fingern, aber bevor sie das Wachs aus seiner flauschigen Umhüllung pulen konnte, griff ihre Tochter danach.
„Mama!“ L entriss ihr das Bällchen und schleuderte es auf den Küchenfußboden.
Was fiel der Kleinen ein? Helena schubste sie von sich weg. „Du hebst das auf! Jetzt!“
L streckte ihr das mit Rotz verschmierte Gesicht entgegen. „Suchen wir dann nach Tobi?“ Sie klang trotzig.
„Heb das auf!“ Helena zeigte auf das Bällchen. L starrte sie reglos an. Wag das ja nicht! Helena starrte zurück.
L musste etwas bemerkt haben, ein gefährliches Zucken in Helenas Gesicht vielleicht, jedenfalls bückte sie sich, hob das Wachsbällchen im Plüschmantel auf und gab es ihr. Gerade noch rechtzeitig, dachte Helena, während sie ruhiger wurde.
„Entschuldigung“, sagte L leise.
Helena betrachtete das Bällchen in ihrer Hand. Der Plüschbezug war schmutzig geworden. Sie öffnete den Deckel vom überquellenden Eimer mit einem Fußtritt und warf das umhüllte Wachsbällchen in den Müll. Sofort hörte sie L’s Stimme: „Ich bring ihn raus, Mama. Okay?“
Helena nickte. Ja, es war ja schon gut, sie war nicht mehr angepisst. So schnell es bei ihr hochkochte, so schnell verging es wieder. Und sie würden Tobi suchen. Bestimmt. Nachher. Wenn der Müll draußen war.
L sah sie prüfend an und Helena erwiderte ihren Blick, dann verschwand die Kleine mit dem Mülleimer Richtung Wohnzimmer. Helena hörte, wie sie den Rotz in ihrer Nase hochzog und die Terrassentür öffnete.
L musste in den Garten hinter der Garage, dort standen die Mülltonnen vom Haus. Ihre Wohnung im Erdgeschoss hatte noch der Vater von L gekauft und sie ihnen nach der Scheidung überlassen. Das schlechte Gewissen eines Flüchtenden, hatte Helena gedacht. Damals, als sie noch Dom Perignon getrunken hatte und nicht Goldkrone. Goldkrone war neu.
Auf Dauer wurde auch eine geschenkte Wohnung teuer, diese verfickten laufenden Kosten – so nannte man das, wenn Dinge renovierungsbedürftig wurden und man sie eigentlich reparieren müsste. Defekte Lampen, verstopfte Rohre oder vom Kind beschmierte Tapeten. Dann noch Strom, Wasser und natürlich die Müllabfuhr. Die Rechnungen nahmen kein Ende. Helena hatte schon über ein Jahr kein Engagement mehr als Model gehabt. Entweder wurde sie zu alt oder sie trank zu viel. Oder beides.
Scheiß auf den Verfall, dachte sie. Wen schert’s?
Die Flasche Goldkrone stand noch auf dem Boden, L hatte sie nicht mit rausgenommen. Helena hob die Flasche, hielt sie gegen das Sonnenlicht, das durch die Fenster in die Küche fiel. Ein kleiner Rest. Sie öffnete die Flasche und trank. Es schüttelte sie, als sie die Flasche senkte. Sie rülpste leise. Ein früher Schluck, Helena lachte bitter.
Dann dachte sie, wenn’s hilft, und horchte ins Wohnzimmer, ob ihre Tochter zurückkam. Rasch stellte sie die Flasche auf den Boden zurück. Ein verschmierter Kreis zeigte ihr die Position. Tobi. Irgendetwas über den Köter bedrängte sie wieder. Wobei Alkohol nicht alles helfen kann, dachte sie, dann huschte die Erinnerung wie ein Schatten durch ihr Bewusstsein.
Scheiße.
Hatte sie das wirklich getan? Das würde ihr L nie verzeihen.
Die Balkontür ging auf, L’s Kinderschritte näherten sich. „Tobi?“, sagte ihre Tochter zweifelnd, dann sehr bestimmt. „Tobi.“
Helena nickte. „Muss mich nur noch anziehen“, nuschelte sie und nahm ihre Erinnerung an gestern Abend mit ins Schlafzimmer. Sie war mit dem Hund draußen gewesen, ziemlich besoffen vermutlich. Dann hatte der Hund Stunden zum Kacken gebraucht und plötzlich war ihr alles zu viel geworden: der fehlende Job, das Kind, der kackende Hund. Sie hatte mit Steinen nach ihm geworfen, er hatte gejault, vielleicht hatte sie getroffen. Irgendwann war er abgezogen. Hinkend? Helena versuchte sich zu erinnern, aber das Bild blieb verschwommen.
Sie ließ sich aufs ungemachte Bett plumpsen, fühlte, wie Tränen in ihre Augen stiegen. Was sollte das denn? Sie heulte doch nicht. Und weswegen? Helena schluckte die Tränen herunter und begann, an der Haut ihres Daumennagels zu pulen. Erst vorsichtig, dann pulte sie stärker, bis endlich Blut floss. Mechanisch steckte sie den Daumen in den Mund, saugte an der Wunde. Mit dem leicht metallischen Geschmack im Mund dachte sie nach. Woher die Erkenntnis kam, wusste sie nicht, aber sie war sicher, dass sie stimmte. Alle verließen sie, das stand mal fest. Erst der Mann, bald das Kind, selbst der Köter, irgendwie. Hätte nicht wegrennen müssen, oder? Hätte die Steine auf seinem Fell aushalten können. Bei ihr bleiben, eben.
„Mami!“
Sie schreckte auf. Dachte kurz an die Ohropax, entschied, nicht nach ihnen zu tasten.
Helena riss sich zusammen.
„Ich komme!“, rief sie in den Flur. Ihre Tochter hatte wahrscheinlich schon Jacke und Schuhe angezogen.
Helena zog ihren Bademantel aus, das Nachthemd über den Kopf, setzte sich nackt auf ihr Bett. Roch an ihren Achseln, ihrem Atem. Vielleicht fanden sie Tobi tatsächlich wieder. Man konnte nichts ausschließen im Leben.
Dann streifte ihr Blick den Nachtisch: ihre Zigaretten!
Natürlich, sie hatte die Stange mit ins Schlafzimmer genommen. Ein Feuerzeug lag neben einer offenen Packung. Helena zündete sich eine Zigarette an. Inhalierte tief. Für einen Moment schien das Leben ganz einfach zu werden. Sie schloss die Augen. Die Wohnungstür fiel zu.
Die Kleine würde doch nicht? Das Klingeln an der Tür ihrer Nachbarin oben war gedämpft in Helenas Schlafzimmer zu hören. Diese Scheißtante brachte es fertig! Helena stürmte in den Flur – sie war nackt! Zurück im Schlafzimmer warf sie sich den Bademantel über, stolperte wieder in den Flur und aus der Wohnung.
„L!“, brüllte sie im Treppenhaus. „L!“
Über ihr schloss sich die Tür mit einem Knall.
veröffentlicht im Oktober 2021 als „Goldkrone“ in Schriftzüge, Brandenburgische Blätter für Kunst und Literatur, Jahrgang 23/2021, Ausgabe 4 , ISSN 1619-6376
und im August 2022 in „entkommen“, WortZeichen Schrift 2, ISBN 978-3-96763-108-1 Kulturmaschinen 2022