Fliehkraft

Der Fahrtwind treibt Regen gegen die Zugscheiben. Tropfen zerplatzen und eilen in dünnen Schlieren hinunter. Im Glas spiegelt sich das Gesicht einer jungen Frau, brünett, dunkle Ringe unter den Augen. Hinter ihrem Spiegelbild flitzen Flussläufe und grüne Wiesen vorbei. Fruchtbares Land mit Kühen und Schafherden.

Kathrin sieht nur sich selbst.

Auf dem Bahnhof von Westerland regnet es noch. Katrin ist aus dem Zug gestiegen, ihre Handtasche über der Schulter. Die braune Reisetasche steht neben ihr auf dem Bahnsteig. Kathrin hat keinen Schirm eingepackt, mit Regen hat sie auf Sylt nicht gerechnet. Dumm von ihr, denkt sie.

Auch ihre Mutter trägt keinen Schirm, „nur eine kleine Husche“, murmelt Mutter, während fette Tropfen auf ihr blondgelocktes Haar und auf ihren hellen Sommermantel fallen. Sie umarmt ihre Tochter federleicht. Vielleicht will sie mich nicht nass machen, denkt Kathrin. Aber ich bin doch schon nass.

Mutter blickt sich um. „Jürgen!“, ruft sie über den Bahnsteig. „Ich hab sie!“

Ein großer Mann eilt auf beide zu, er hat das andere Ende des Bahnsteigs „abgedeckt“, wie er sagt, während er Kathrin kräftig umarmt, hat dort nach ihr gesucht zwischen den anderen, die auch in Westerland ausgestiegen sind.

„Du hast Verspätung“, sagt er, und die blondgelockte, schmale Gestalt von Kathrins Mutter klammert sich an seinen Arm.

„Dafür kann das Mädchen doch nichts“, murmelt sie und schaut zu Jürgen hinauf. Kathrin kennt diesen Blick ihrer Mutter, halb vorwurfsvoll, halb flehend. Ich hätte ihn nicht geheiratet, denkt sie.

Jürgen übersieht seine Frau, sagt: „Los!“ Kathrin greift nach ihrer Reisetasche.

„Jürgen versteht auch nicht, warum du bei der Zeitung weggegangen bist“, sagt Kathrins Mutter, als die drei das Ferienappartement erreichen. „Tu endlich was.“

„Sie kann immer noch heiraten.“ Jürgen verstaut Kathrins Reisetasche hinter dem Sofa im Wohnzimmer des Appartements. „Auspacken tust du heute Abend. Dann stört es niemanden.“

Kathrin fügt sich und plumpst in einen braunen Ledersessel, aber Mutter scheucht sie hoch. „Das ist Jürgens Platz.“

Kathrin wechselt zu einem anderen Ledersessel. Ich werde versuchen, es zu erklären, denkt sie. Ich werde ihnen sagen, dass ich darüber verrückt werde, über mich verrückt werde, aber ich kann nicht anders. Nie mehr wiedergekäute Wirklichkeit. Ich wünsche es mir so sehr, in der Fantasie zu schwimmen, zu tauchen, nach Schätzen, manchmal in die Irre.

„Oder mach was Anderes“, sagt Mutter. „Es gibt so schöne Berufe.“

Kathrin hat Mutter kaum zugehört. In ihr schwingen die Gedanken weiter, sie ist sicher, sie kann sich erklären. „Ich …“

„Du willst nicht“, unterbricht sie Jürgen. „Dabei hat deine Mutter Recht, es gibt so schöne Berufe. Du bekommst doch schon Hartz IV, oder?“

Seit einem halben Jahr bekommt sie es schon. Seit sie von der Zeitung weggegangen ist – auf ihr Talent vertraute, Bücher zu schreiben, die gedruckt und bezahlt werden. Aber sie schreibt nicht, an keinem einzigen Tag hat sie bisher geschrieben. Viel zu früh am Morgen schreckt sie hoch, fühlt sich von einem Schwindel erfasst. Das Herz rast ihr in der Brust und sobald sie sich aufrichtet, kann sie ihr Gleichgewicht nicht finden. So bleibt sie liegen in dem Wissen, dass ihr Leben zu einer Scheibe geworden ist und die Scheibe begonnen hat, sich zu drehen. So schnell dreht sich die Scheibe, dass sie sich kaum auf ihr halten kann. Die Fliehkraft droht Kathrin hinunterzuschleudern.

Ist der Schwindel vergangen, bleibt Kathrin liegen, versteckt zwischen Bettdecken und Kissen, eine halbe Stunde, eine Stunde, bis sie eindöst und in den Tag hineinschläft.

Kathrin sieht Jürgen ins Gesicht, sieht in den Augen des zweiten Ehemannes ihrer Mutter die Ungeduld, dass sie endlich seine Frage beantwortet. Scham steigt in ihr auf. Das Gefühl kriecht unter die Haut und dünstet in Wolken aus ihren Poren. Nach und nach füllt sich das Ferienappartement mit Scham.

„Ich will zum Wasser“, sagt Kathrin leise.

Jürgen schweigt missbilligend. Mutters Blick fliegt zwischen Tochter und zweitem Ehemann hin und her. Kathrin reißt ihre Jacke vom Hacken. „Tschüss.“

Draußen blühen wilde Rosen im Regen. Ihr Duft gleicht einem Willkommen. Das Häuschen, an dem die Kurtaxe bezahlt wird, ist nicht besetzt. Kathrin steigt die Dünen hinauf. Sie sieht das Meer und hört den Wind. Stapft durch den Sand zum Wasser. Noch viel lauter brüllt es hier und saust und tost. Das Meer wartet auf Kathrin. Seine weißen Schaumkronen rollen auf sie zu und küssen den Sand vor ihren Füßen. Dem Wasser kann sie vertrauen, das war schon immer so. Wenn sie alles falsch gemacht hatte, und ihr Vater sie schlug, und Mutter dabeistand, rannte sie ins Badezimmer, sobald sie ihm entkommen konnte. Es war ein blauweiß gekacheltes Bad, und sie konnte die Tür verschließen. Manchmal schob sie noch die kleine Kommode vor die Tür. Sie ließ Wasser in die Badewanne laufen, weinte mit dem heißen Strahl, der aus dem Hahn schoss, machte ihn heißer und heißer. Hörte, wie ihr Vater an der Tür rüttelte und schrie. Angezogen wie sie war, stieg sie ins Wasser und tauchte unter. Die Welt entfernte sich, wurde verschwommen und stumm. Sie probierte, wie lange es ein Mensch unter Wasser aushalten konnte. Mit aufgerissenen Augen, die Nase mit den Fingern zugeklemmt.

Kathrin zieht ihre Schuhe aus, bohrt die Zehen in den nassen Sand. Wind zerrt an der Jacke. Unvermittelt kommt der Hass. L`enfer, c`est les autres – nein, das sind wir schon selbst, möchte sie übers Meer schreien. Der Hass vergeht nicht, sie kennt das seit Langem, es ist wie ein inneres Brennen. Irgendetwas anderes fühlen, denkt sie, und der Hass treibt sie ins Wasser. Es regnet immer noch und sie geht in Jeans und Windjacke hinein. Bis zu den Knien steht sie im Meer.

Auf den Wellen treiben Feuerquallen heran. Immer mehr orangeweiße Glibberhüte mit langen Fäden, die ins Wasser hängen. Wenn diese Glibberwesen in ihr Hosenbein treiben! Ekel bringt sie zurück. Sie jagt aus dem Wasser, hat nasse Hosenbeine und der Sand klebt an ihren Füßen, als sie in die Schuhe schlüpft.

Im Ferienappartement zerrt sie eine neue Hose aus der Reisetasche und hängt die nasse ins Bad.

Später, beim Abendbrot, fragt Jürgen: „Warst du im Wasser?“ Mit Jeans ins Wasser! steht vorwurfsvoll in seinen Augen.

„Lass das Mädchen in Ruhe“, sagt Mutter scharf. „Was verstehst du schon? Kathrin freut sich eben, dass sie am Meer ist, nicht wahr?“ Sie fordert ein Nicken von ihrer Tochter und Kathrin gibt es ihr. „Du verstehst gar nichts“, schließt Mutter mit einem bösen Blick auf ihren Mann.

Sie muss sich mit Jürgen gestritten haben, dass sie mich so verteidigt, denkt Kathrin.

Am nächsten Morgen gehorcht Mutter Jürgen wieder und Kathrin darf nicht duschen, weil Jürgen nicht will, dass morgens geduscht wird. Sonst stehe den ganzen Tag der Wasserdampf im Bad, sagt er. Schließlich habe es keine Fenster, nur einen Abzug. Kathrin hat keine Kraft dafür, um die Dusche zu kämpfen. Um fünf Uhr ist sie wach gewesen und hat mit der Fliehkraft gekämpft. Nachdem sie wieder eingeschlafen war, hat Mutter sie geweckt. „Jürgen wartet mit dem Frühstück“, hat Mutter gesagt.

Nach dem Frühstück nimmt Jürgen Kathrin beiseite. „Weißt du, wie viele Sorgen deine Mutter sich deinetwegen macht?“ Seine Stimme klingt, als sei Kathrin für jede Sorge ihrer Mutter verantwortlich.

Wenig später ist Mutter mit ihr allein. „Jürgen sorgt sich wirklich um dich.“ Ihre Stimme klingt, als sei sie stolz auf Jürgen, weil er fähig ist, sich zu sorgen.

Der Wind dreht, es wird heiß. Zu dritt fahren sie zum Nacktbadestrand. Mutter und Jürgen gehen immer nackt baden, deshalb tut Kathrin es auch.

Im Wasser sind die Feuerquallen verschwunden, wie es der Wetterbericht versprochen hat. Dafür sind die Weller höher. Viel höher. Da draußen ist es richtig gefährlich. Mutter zeigt aufs Wasser. Kathrin soll auf keinen Fall tiefer hinein gehen. Hat sie verstanden?

Mutter klettert aus dem Strandkorb und kommt zu ihr. Setzt sich neben sie in den Sand.

„Mäuschen?“, fragt Mutter. Hat Kathrin sie verstanden?

Kathrin rückt ein Stück weg, obwohl sich Mutter gar nicht so nah an sie heran gesetzt hat. Kleidung ist etwas, das uns schützt, denkt Kathrin und ihr kommt die nackte Mutter schutzlos vor. Aber sie, Kathrin, kann sie nicht beschützen. Jeder schützt immer nur sich selbst, denkt Kathrin, und während sie die nackte Mutter betrachtet, ekelt sie sich vor ihr. Kathrin kann sich nicht helfen, so sehr sie versucht, es nicht zu tun, sie ekelt sich.

Mutter hat begonnen zu erzählen. Von Jürgen und sich und immer wieder von Jürgen. Von seinen Krankheiten, seinen krankhaften Gefühlen, von seiner Kindheit. Von allem, was er ihr antut und wofür er nichts kann.

Kathrin bemüht sich, nicht zuzuhören. Endlich steht Mutter auf, klopft sich den Sand von den Pobacken und stapft zu Jürgen zurück.

Der Strand zieht sich endlos.

Seit Mutter gegangen ist, spürt sich Kathrin nicht mehr. Es ist wie früher im heißen Wasser der Badewanne. Automatisch setzt sie einen Fuß vor den anderen. Warum ist sie weg von der Zeitung. Vertraute ihrem Talent oder dem, was sie dafür hielt? Weiter draußen gehen die Wellen hoch. Mutter hat recht, heute sollte niemand tief ins Wasser gehen. Das Meer ist kalt. Viel zu kalt. Je weiter Kathrin hineinwatet, desto mehr Gefühl kehrt zurück. Erst an ihren Füßen, dann an ihren Waden und Oberschenkeln. Es ist unmöglich, in so kaltem Meerwasser zu waten und nichts zu fühlen. Die Wellen donnern auf sie zu, reißen sie fast um. Der Sand unter ihren Füßen schwindet, aber noch steht Kathrin. Sie geht tiefer hinein. Wieder donnern die Wellen. Kathrin sieht sie kommen. Diesmal sind sie zu hoch. Diesmal, das weiß Kathrin, werden sie sie umreißen.

„Kathrin!“ Sie hört die Stimme von Jürgen. „Kathrin!“, brüllt er. „Komm raus!“

Seine befehlsgewohnte Stimme treibt die junge Frau den Wellen entgegen. Schon sind sie da. Das Wasser schlägt über ihr zusammen. Verschluckt sie und drückt sie zu Boden. Jürgen ist nicht mehr zu hören. Sie reißt die Augen auf. Grün, alles ist grün und grau. Sie bekommt keine Luft mehr, atmet unter Wasser. Das Meer quillt in ihre Lungen. Der Sog schiebt sie über den Meeresboden, Knie und Handflächen schürfen auf. Kräftige Arme greifen nach ihr. Jürgen ist da. Noch mehr Hände, Arme, schließlich Gesichter. Kathrin ist zurück an der Oberfläche. Sie keucht und spuckt. Drei Männer retten sie.

Sie liegt auf dem Sand. Mutter beugt sich über sie. Kathrin fühlt Tränen auf ihr Gesicht tropfen, sie hält die Augen fest geschlossen.

Beim Abschied am Bahnhof weint Mutter wieder. Kathrin versteht nicht, warum. Warum weint sie, Kathrin fährt doch weg. Sie hat den beiden genug Ärger gemacht. Das hat Mutter gestern Abend nach dem Unfall gesagt. Einen Unfall hat Jürgen es genannt. Aber in seinem Gesicht stand: Wie konntest du uns das nur antun? Kathrin hätte ihn gern geschlagen. Mit der flachen Hand ins Gesicht, nein, besser mit der Faust.

Das hat dir doch Spaß gemacht, hat sie gedacht, deine Scheißpflicht zu erfüllen und mich zu retten! Natürlich hat sie ihn nicht geschlagen, aber sie hätte es wirklich gerne getan.

Heute auf dem Bahnsteig übersieht sie ihn. Als sei er Luft für sie geworden.

Stattdessen sieht Kathrin Mutter in die tränenverhangenen Augen. Vielleicht liebt sie diese schmale Gestalt, die sich wie immer an den Arm ihres Mannes schmiegt. Aber in Kathrins Liebe mischt sich Verachtung. Verachtung ist besser als Ekel, denkt Katrin und lässt das Gefühl zu, dreht es auf wie einen Wasserhahn und aus dem Tröpfeln wird ein Strömen.

„Bis dann“, sagt sie zu Mutter und Jürgen, ohne einen von beiden zu umarmen. Sie steigt in den Zug. Sucht sich einen Platz. Verstaut ihre Reisetasche in der Ablage. Setzt sich. Betrachtet ihr Spiegelbild im Fenster. Dunkle Ringe unter den Augen. Sie kramt in ihrer Handtasche. Zieht einen Abdeckstift und einen kleinen Spiegel heraus. Betupft ihre Ringe. Dann kommt die Müdigkeit, sie schließt die Augen. Bis Berlin schläft sie. Traumlos.

 

 

veröffentlicht im November 2018 als „Insel-Tagebuch“ in der Anthologie der Autoren 2: Terror, Umarmung des Bösen, Frohberger / Herbig, ISBN: 3-935982-17-8

und als „Fliehkraft“ im Frühjahr 2020 in Der Maulkorb, Blätter für Literatur und Kunst #28, ISSN 1865-9586